Entscheidungsstichwort (Thema)
Beitrittsgebiet: Verhältnis § 57 Abs.4 EStG zu § 9 DBStÄndG DDR, verfassungsrechtliche Zulässigkeit der rückwirkenden Einführung des Verlustrücktrags - Verfassungsrechtliches Rückwirkungsverbot - Kein Vertrauensschutz des Steuerpflichtigen vor zukünftigen Gesetzesänderungen - Rechtscharakter des § 9 DBStÄndG DDR - Auslegungsgrundsätze
Leitsatz (amtlich)
1. Der gemäß § 57 Abs.4 Satz 1 i.V.m. § 10d EStG vorzunehmende Verlustrücktrag geht der Anrechnung des Steuerabzugsbetrags nach § 9 DBStÄndG DDR vor.
2. Der mit StÄndG 1991 eingeführte Verlustrücktrag nach § 57 Abs.4 Satz 1 EStG ist nicht wegen unzulässiger Rückwirkung verfassungswidrig.
Orientierungssatz
1. Der Steuerabzugsbetrag nach § 9 DBStÄndG DDR, der auch Kapitalgesellschaften zustand, geht --auch nach DDR-Recht-- nicht in die Einkommensermittlung ein. Er mindert die zusammengefaßte Steuerschuld sämtlicher Steuerarten.
2. Maßgebend für die Auslegung einer Gesetzesvorschrift ist der in dieser zum Ausdruck kommende objektivierte Wille des Gesetzgebers, so wie er sich aus dem Wortlaut der Gesetzesbestimmung und dem Sinnzusammenhang ergibt, in den diese hineingestellt ist. Nicht entscheidend ist dagegen die subjektive Vorstellung der am Gesetzgebungsverfahren beteiligten Organe über die Bedeutung der Bestimmungen. Der Entstehungsgeschichte einer Vorschrift kommt für deren Auslegung nur insoweit Bedeutung zu, als sie die Richtigkeit einer nach den angegebenen Grundsätzen ermittelten Auslegung bestätigt oder Zweifel behebt, die auf dem angegebenen Weg allein nicht ausgeräumt werden können (vgl. Rechtsprechung).
3. Der Bundesgesetzgeber ist grundsätzlich nicht gehindert, die seiner Regelungskompetenz unterliegenden Normen, die vom EinigVtr erfaßt waren, zu ändern. Der EinigVtr kann der von Verfassungs wegen bestehenden Gesetzeskompetenz allenfalls dann entgegen gehalten werden, wenn die Gesetzesänderung, verglichen mit den Regelungen im EinigVtr --generell abstrakt--- gesehen, zu einer Verschlechterung der Rechtssituation der Bürger im Beitrittsgebiet führt. Das ist mit der Einführung des Verlustrücktrags aber nicht geschehen.
4. Das verfassungsrechtliche Rückwirkungsverbot gilt nur für belastende, nicht für begünstigende Gesetzesänderungen. Von allein die Zukunft betreffenden Gesetzesänderungen ist der Steuerpflichtige von Verfassungs wegen nicht geschützt. Grundsätzlich kann er nicht darauf vertrauen, daß der Gesetzgeber Steuervergünstigungen und steuerliche Freiräume künftig aufrecht erhält.
Normenkette
EinigVtr Anlage I Kap IV B II Nr. 16 Buchst. k; EStG § 10d Abs. 1; EStG 1990 § 57 Abs. 4 S. 1 Fassung 1991-06-24; StRVÄndGDBest § 9 Abs. 1
Verfahrensgang
FG des Landes Sachsen-Anhalt (Entscheidung vom 31.07.1996; Aktenzeichen 2 K 276/94; EFG 1997, 239; LEXinform-Nr. 0141091) |
Tatbestand
I. Die Klägerin und Revisionsbeklagte (Klägerin), eine GmbH, begann ihre Tätigkeit im Beitrittsgebiet am 1. Juli 1990. Ihr steuerpflichtiges Einkommen im 2. Halbjahr 1990 betrug 11 844 DM. Die zusammengefaßte Steuer in Höhe von 4 988 DM verrechnete die Klägerin mit dem Abzugsbetrag nach § 9 der Durchführungsbestimmungen zum Gesetz zur Änderung der Rechtsvorschriften über die Einkommen-, Körperschaft- und Vermögensteuer - Steueränderungsgesetz vom 16. März 1990 (DBStÄndG DDR). Der verbleibende Steuerabzugsbetrag in Höhe von 5 012 DM wurde festgestellt. Die 1990 betreffenden Steuerbescheide wurden bestandskräftig.
In den Veranlagungszeiträumen 1991 und 1992 erwirtschaftete die Klägerin Verluste. Der Verlust 1991 betrug 14 822 DM. Der Beklagte und Revisionskläger (das Finanzamt --FA--) änderte den Steuerbescheid für 1990 und nahm einen Verlustrücktrag in das 2. Halbjahr 1990 in Höhe von 11 844 DM vor. Die Körperschaftsteuer wurde auf 0 DM festgesetzt; die Festsetzung der Gewerbesteuer blieb unverändert. Nach Abzug des Steuerabzugsbetrags von der Gewerbesteuer betrug die zusammengefaßte Steuer 0 DM und der verbleibende Steuerabzugsbetrag 6 900 DM. Der verbleibende Verlustvortrag 1991 wurde zum 31. Dezember 1991 auf 2 978 DM festgestellt.
Gegen den Änderungsbescheid für 1990 und die Feststellung des verbleibenden Verlustabzugs zum 31. Dezember 1991 legte die Klägerin Einspruch ein mit dem Begehren, von einem Verlustrücktrag abzusehen. Dies lehnte das FA ab.
Das Finanzgericht (FG) gab der Klage statt (Entscheidungen der Finanzgerichte --EFG-- 1997, 239).
Das FA rügt mit seiner Revision Verletzung des § 57 Abs. 4 Satz 1 des Einkommensteuergesetzes (EStG) i.d.F. des Steueränderungsgesetzes 1991 --StÄndG 1991-- (BGBl I 1991, 1322, BStBl I 1991, 665) und beantragt, das Urteil des FG aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Die Klägerin beantragt, die Revision zurückzuweisen.
Entscheidungsgründe
II. Die Revision ist begründet. Sie führt zur Aufhebung des Urteils des FG und zur Klageabweisung (§ 126 Abs. 3 Nr. 1 der Finanzgerichtsordnung --FGO--).
1. Gemäß § 8 Abs. 1 des Körperschaftsteuergesetzes (KStG) i.V.m. § 57 Abs. 4 Satz 1 EStG i.d.F. des StÄndG 1991 ist bei einer Kapitalgesellschaft, die 1990 ihren Sitz im Beitrittsgebiet hatte, § 10d Abs. 1 EStG mit der Maßgabe anzuwenden, daß der Sonderausgabenabzug erstmals von dem für die 2. Hälfte des Veranlagungszeitraums 1990 ermittelten Gesamtbetrag der Einkünfte vorzunehmen ist. Der Verlustrücktrag ist --wie seinerzeit auch für Steuerpflichtige in den alten Bundesländern-- bis zum Veranlagungszeitraum 1994 zwingend (vgl. "ist ... vorzunehmen"; vgl. auch § 10d Abs. 1 EStG: "sind ... abzuziehen").
2. Der Verlustrücktrag geht aus systematischen Gründen der Berücksichtigung des Steuerabzugsbetrags nach § 9 DBStÄndG vor.
Er ist nach § 10d Abs. 1 EStG vom Gesamtbetrag der Einkünfte vorzunehmen und mithin im Rahmen der Einkommensermittlung abzusetzen. Für den Verlustrücktrag nach § 57 Abs. 4 Satz 1 EStG ist nichts Abweichendes bestimmt. Auch das bis zum 31. Dezember 1990 noch anzuwendende Steuerrecht der DDR unterschied sich insoweit systematisch nicht vom bundesdeutschen Recht: Nach § 2 Abs. 2 EStG i.d.F. vom 18. September 1970, geändert durch das Steueranpassungsgesetz (StAnpG) vom 22. Juni 1990 (Gesetzblatt der DDR Sonderdruck 1427) war als Einkommen der Gesamtbetrag der Einkünfte aus den in § 2 Abs. 3 bezeichneten Einkunftsarten nach Abzug der Sonderausgaben zu verstehen.
Der Steuerabzugsbetrag nach § 9 DBStÄndG DDR, der auch Kapitalgesellschaften zustand (vgl. Urteil des Bundesfinanzhofs - -BFH-- vom 27. Oktober 1994 I R 107/93, BFHE 176, 529, BStBl II 1995, 403), geht demgegenüber --auch nach DDR-Recht-- nicht in die Einkommensermittlung ein (BFH-Urteil vom 9. November 1994 I R 67/94, BFHE 176, 244, BStBl II 1995, 305). Er mindert die zusammengefaßte Steuerschuld sämtlicher Steuerarten. Dies hat auch der IV. Senat des BFH so gesehen (vgl. BFH-Urteil vom 6. Juli 1995 IV R 84/94, BFHE 178, 189, BStBl II 1995, 833 unter 3.). Auf die vom FG aufgegriffene Streitfrage, ob der Steuerabzug in Form eines Verwaltungsakts sui generis im Veranlagungsverfahren vorzunehmen oder erst im Rahmen des Abrechnungsverfahrens (vgl. BFH-Urteil vom 6. März 1995 VI R 81/94, BFHE 177, 122, BStBl II 1995, 463) zu berücksichtigen ist, kommt es im Streitfall nicht an (vgl. hierzu im übrigen BFH-Urteil vom 13. November 1996 XI R 6/95, BFHE 182, 75, BStBl II 1997, 293).
3. Der Senat teilt nicht die Auffassung der Vorinstanz, wonach Wortlaut und Systematik des § 57 Abs. 4 Satz 1 i.V.m. § 10d Abs. 1 EStG hinter dem gesetzgeberischen Anliegen zurückzutreten hätten, durch die Eröffnung des --begrenzten-- Verlustrücktrags den Steuerpflichtigen im Beitrittsgebiet ausschließlich (kumulative) steuerliche Vorteile verschaffen zu wollen. Maßgebend für die Auslegung einer Gesetzesvorschrift ist der in dieser zum Ausdruck kommende objektivierte Wille des Gesetzgebers, so wie er sich aus dem Wortlaut der Gesetzesbestimmung und dem Sinnzusammenhang ergibt, in den diese hineingestellt ist. Nicht entscheidend ist dagegen die subjektive Vorstellung der am Gesetzgebungsverfahren beteiligten Organe über die Bedeutung der Bestimmungen. Der Entstehungsgeschichte einer Vorschrift kommt für deren Auslegung nur insoweit Bedeutung zu, als sie die Richtigkeit einer nach den angegebenen Grundsätzen ermittelten Auslegung bestätigt oder Zweifel behebt, die auf dem angegebenen Weg allein nicht ausgeräumt werden können (Urteil des 2. Senats des Bundesverfassungsgerichts --BVerfG-- vom 21. Mai 1952 2 BvH 2/52, BVerfGE 1, 299, 312). Im übrigen kann dem Gesetzgeber nicht unterstellt werden, daß ihm die in Literatur und Rechtsprechung erörterten Nachteile eines zwangsweisen Verlustrücktrags nicht bekannt gewesen seien (vgl. z.B. BFH-Urteile vom 30. März 1983 I R 178/79, BFHE 138, 236, BStBl II 1983, 512; vom 28. Juni 1968 VI R 214/66, BFHE 93, 278, BStBl II 1968, 774; FG Hamburg, Urteil vom 14. September 1978 II 50/77, EFG 1979, 290; Herrmann/Heuer/Raupach, Einkommensteuergesetz und Körperschaftsteuergesetz mit Nebengesetzen, Kommentar, § 10d EStG Rdnr. 179, m.w.N.; von Groll in Kirchhof/Söhn, Einkommensteuergesetz, § 10d B 344).
4. Gegen die Änderung des § 57 Abs. 4 Satz 1 EStG i.d.F. des Einigungsvertrages --EinigVtr-- (vgl. Anl. I Kapitel IV Sachgebiet B, Abschn. II Nr. 16k, BGBl II 1990, 975) durch das StÄndG 1991 vom 24. Juni 1991 (BGBl I 1991, 1322, BStBl I 1991, 665) bestehen keine verfassungsrechtlichen Bedenken.
a) Der Bundesgesetzgeber ist grundsätzlich nicht gehindert, die seiner Regelungskompetenz unterliegenden Normen, die vom EinigVtr erfaßt waren, zu ändern (s. Beschluß des 1. Senats des BVerfG vom 9. August 1995 1 BvR 2263/94, 229, 534/95, BVerfGE 93, 213, 239). Es kann dahingestellt bleiben, ob, wie die Klägerin meint, diese Änderungskompetenz nur zum Schutz fundamentaler Rechtsgrundsätze besteht. Der EinigVtr kann der von Verfassungs wegen bestehenden Gesetzeskompetenz allenfalls dann entgegen gehalten werden, wenn die Gesetzesänderung, verglichen mit den Regelungen im EinigVtr --generell abstrakt--- gesehen, zu einer Verschlechterung der Rechtssituation der Bürger im Beitrittsgebiet führt. Das ist mit der Einführung des Verlustrücktrags aber nicht geschehen.
b) Die rückwirkende Einführung des Verlustrücktrags verstößt auch nicht gegen das verfassungsrechtliche Rückwirkungsverbot.
Eine Gesetzesrückwirkung findet grundsätzlich nur dort ihre verfassungsrechtlichen Grenzen, wo Vertrauensschutz des Bürgers und Rechtssicherheit einer Änderung entgegenstehen. Das verfassungsrechtliche Rückwirkungsverbot gilt daher nur für belastende, nicht für begünstigende Regelungen (vgl. Beschluß des 1. Senats des BVerfG vom 7. Februar 1968 1 BvR 628/66, BVerfGE 23, 85, 93; BFH-Urteil vom 17. Februar 1994 VIII R 30/92, BFHE 175, 226, BStBl II 1994, 938; Herzog in Maunz/Dürig, Grundgesetz, Art. 20 VII Rdnr. 66). Die rückwirkende Einführung des Verlustrücktrags hat als solche nur steuerentlastende Wirkung. So beträgt die Steuerschuld der Klägerin auch im Streitfall für 1990 mit bzw. ohne Verlustabzug 0 DM.
Steuerbelastende Wirkungen ergeben sich für die Klägerin erst daraus, daß durch den vorrangigen Verlustrücktrag der Verlustvortrag nach § 10d Abs. 2 EStG (hier für die Jahre ab 1992) um den 1990 verbrauchten Verlustrücktrag geringer ist, als er dies ohne die Änderung des § 57 Abs. 4 Satz 1 EStG gewesen wäre. Vor derartigen, allein die Zukunft betreffenden Gesetzesänderungen ist der Steuerpflichtige von Verfassungs wegen aber nicht geschützt. Grundsätzlich kann er nicht darauf vertrauen, daß der Gesetzgeber Steuervergünstigungen und steuerliche Freiräume künftig aufrecht erhält (vgl. Beschluß der 3. Kammer des 1. Senats des BVerfG vom 29. Oktober 1987 1 BvR 672/87, Höchstrichterliche Finanzrechtsprechung 1989, 152). Auch die Grundsätze für eine verfassungsrechtlich u.U. unzulässige unechte Rückwirkung greifen im Streitfall nicht. Verfassungsrechtlichen Schutz gegen eine Rückwirkung kann danach zwar auch das Vertrauen des Bürgers darauf beanspruchen, daß seine Rechtsposition nicht nachträglich durch Vorschriften entwertet wird, die lediglich für die Zukunft auf gegenwärtige, noch nicht abgeschlossene Sachverhalte einwirken (vgl. z.B. Beschluß des 2. Senats des BVerfG vom 7. Mai 1969 2 BvL 15/67, BVerfGE 25, 371, m.w.N.; Beschluß des 1. Senats des BVerfG vom 12. März 1996 1 BvR 609, 692/90, BVerfGE 94, 259). Die Klägerin hat jedoch im maßgeblichen Zeitpunkt, d.h. bis zum Inkrafttreten des StÄndG 1991 mangels Verlusten noch gar keine Rechtsposition erlangt, die ihr künftig einen Verlustvortrag ermöglicht hätte. Das Recht auf Verlustvortrag entstand erst mit Ausweis des Verlustes zum 31. Dezember 1991.
Fundstellen
Haufe-Index 66320 |
BFH/NV 1998, 124 |
BFH/NV 1998, 124-125 (Leitsatz und Gründe) |
BStBl II 1997, 730 |
BFHE 184, 84 |
BFHE 1998, 84 |
BB 1997, 2366 (Leitsatz) |
BB 1998, 932 |
DB 1997, 2518 (Leitsatz) |
DStRE 1997, 962-964 (Leitsatz und Gründe) |
DStZ 1998, 64-65 (Leitsatz und Gründe) |
HFR 1998, 30 |
StE 1997, 705 (Leitsatz) |