Entscheidungsstichwort (Thema)
Wiedereinsetzung in den vorigen Stand, Nachvollziehbar keit der Gründe für die Überzeugungsbildung des Gerichts
Leitsatz (NV)
1. Die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand kommt bei Versäumung der Revisionsbegründungsfrist auch dann in Betracht, wenn der Antrag auf Verlängerung der Revisionsbegründungsfrist erst kurz vor deren Ablauf beim FG eingeht und der Prozeßbevollmächtigte des Antragstellers sich nicht vor Ablauf der Frist nach dem Schicksal seines Antrags erkundigt.
2. Sind die für die Überzeugungsbildung des Gerichts bei einer Tatsachenfeststellung angeführten Gründe durch das Revisionsgericht nicht nachzuvollziehen, ist die auf dieser Feststellung beruhende Vorentscheidung aufzuheben.
Normenkette
FGO §§ 56, 96 Abs. 1 S. 3, § 120 Abs. 1 S. 1
Tatbestand
Der Kläger und Revisionskläger (Kläger) ließ 1991 Waren aus Indonesien zum freien Verkehr abfertigen, die mit "Hosen aus Baumwolle" der Codenummer 6203 4231 0000 des Deutschen Gebrauchszolltarifs (DGebr ZT) angemeldet wurden. Das Zollamt (ZA) erhob für die abgefertigten Waren zunächst nur Einfuhrumsatzsteuer. Mit Steueränderungsbescheid forderte das beklagte und revisionsbeklagte Hauptzollamt (HZA) ... DM Zoll- Euro mit der Begründung nach, die Präferenz könne nicht gewährt werden, weil der Länderhöchstbetrag im Zeitpunkt der Abfertigung bereits ausgenutzt gewesen sei.
Im Zuge der Überprüfung der Abfertigungen kam das HZA zu dem Ergebnis, daß nach den den Anmeldungen beigefügten Unterlagen und dem nachträglich vom Kläger übergebenen Warenmuster nicht die angemeldeten Hosen, sondern "Tracksuits" ("Jacken und Hosen" aus 100 % Nylon Trilobal) eingeführt worden seien. Aufgrund eingeholter Gutachten der Zollehranstalt reihte es die Einzelteile, weil gefüttert, nicht zusammen als Trainingsanzüge ein, sondern ordnete die Jacken der Codenummer 6202 9300 0000 ("Blouson aus Gewebe aus Chemiefasern") und die Hosen der Codenummer 6204 6319 0900 ("Lange Hose aus Gewebe aus synthetischen Chemiefasern") zu, für die jeweils der Regelzollsatz von 14 % anzuwenden sei, weil für die Waren die Präferenzzollsätze für Indonesien zum maßgebenden Zeitpunkt nicht mehr gegolten hätten.
Einspruch und Klage blieben erfolglos.
Das Finanzgericht (FG) hielt die Zollnachforderung aufgrund von Art. 2 Abs. 1 der Verordnung (EWG) Nr. 1697/79 (NacherhebungsVO) vom 24. Juli 1979 (Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaften -- ABlEG -- L 197/1) für begründet, weil es nicht überzeugt davon sei, daß die eingeführten Waren im maßgebenden Zeitpunkt präferenzbegünstigt waren. Nach Überzeugung des FG seien entgegen den Angaben in den Zollanmeldungen in Wirklichkeit "Hosen und Jacken aus 100 % Nylon" in den zollrechtlich freien Verkehr übergeführt worden. Diese hätten aus Geweben bestanden; beide Kleidungsstücke seien "ganz gefüttert" gewesen. Diese Aussage des Zeugen A, die Anzüge seien nicht gefüttert gewesen und hätten nur aus einer einzigen Schicht bestanden, sei nicht richtig. Dies habe der Zeuge selbst dadurch bewiesen, daß er auf eine entsprechende Frage des FG spontan und unmißverständlich erklärt habe, daß er als Gegenleistung für seine Hilfe beim Abholen und Ausladen der streitbefangenen Waren aus einem der Kartons einen Trainingsanzug erhalten habe, wie er auf dem ihm vorgehaltenen Blatt der Verwaltungsakten neben zwei anderen Anzügen abgebildet sei. Dieser Anzug weise die gleichen Beschaffenheitsmerkmale auf wie der von der Zoll lehranstalt begutachtete Anzug. Nach alledem sei nicht dargetan worden, daß im Streitfall andere als die im Gutachten und in der Einspruchsentscheidung beschriebenen Waren eingeführt wurden.
Im maßgebenden Zeitpunkt sei für die der Codenummer 6202 9300 0000 DGebrZT 1991 zuzuordnenden Jacken der Regelzollsatz zu erheben gewesen, weil dieser im maßgebenden Zeitpunkt wieder eingeführt gewesen sei. Für die in die Codenummer 6204 6319 0000 DGebrZT 1991 einzureihenden Hosen sei die Zollpräferenz im maß gebenden Zeitpunkt erschöpft gewesen. Die Voraussetzungen des Art. 5 Abs. 2 NacherhebungsVO seien nicht gegeben; die Nacherhebungsfrist von drei Jahren sei noch nicht abgelaufen gewesen.
Der Kläger hat gegen die ihm am 19. November 1993 zugestellte Vorentscheidung am 20. Dezember 1993 (Eingang beim FG) Revision eingelegt und diese am 21. Februar 1994 (Eingang beim FG) begründet. Auf den dem Kläger am 8. Februar 1994 zugestellten Hinweis des Vorsitzenden des VII. Senats des Bundesfinanzhofs (BFH) über die Versäumung der Revisionsbegründungsfrist und die Möglichkeit, einen Antrag nach § 56 der Finanzgerichtsordnung (FGO) zu stellen, hat sich der Kläger am 10. Februar 1994 (Eingang beim BFH) geäußert und Wiedereinsetzung in den vorigen Stand beantragt. Er -- der Kläger -- habe in seinem an das FG gerichteten Schriftsatz vom 17. Januar 1994 darum gebeten, die Frist für die Revisions begründung um einen Monat wegen Arbeitsüberlastung und Erkrankung eines Mitarbeiters seines Prozeßbevollmächtigten zu verlängern. Das Schreiben habe am 17. Januar 1994 die Kanzlei seines Prozeßbevollmächtigten verlassen. Eine -- nicht unterzeichnete -- Kopie des Schreibens vom 17. Januar 1994, eine Kopie des entsprechenden Eintrags im Postausgangsbuch und eine eidesstattliche Versicherung der Kanzleiangestellten, die das Schreiben gefertigt und es zur Post gegeben hat, wurden vorgelegt.
Die Revision stützt der Kläger darauf, daß das FG ein Urteil gefällt habe, das nach den Regeln der Logik nicht haltbar erscheine. Der von der Vorinstanz aus der Vernehmung des Zeugen A gezogene Schluß, es sei nicht dargetan, daß im Streitfall eine andere als die in dem Gutachten der Zollehranstalt beschriebene Ware eingeführt wurde, sei absolut nicht nachzuvollziehen. Die Abbildung des Trainingsanzugs auf der dem Zeugen A vorgehaltenen Fotokopie habe an keiner Stelle das Vorhandensein eines Futters erkennen lassen. Wenn das FG seine Entscheidung maßgeblich darauf stütze, von den erwähnten unzulänglichen Fotokopien auf das Vorhandensein eines Futters schließen zu wollen, sei es von nicht nachzuvollziehenden Umständen ausgegangen.
Das HZA beantragt, die Revision als unbegründet zurückzuweisen.
Der dem Zeugen A als Gegenleistung für seine Hilfe beim Ausladen der streitbefangenen Ware im fraglichen Zeitpunkt übergebene Trainingsanzug entspreche der Abbildung in der Akte und weise die gleichen Beschaffenheitsmerkmale auf wie der von der Zollehranstalt begutachtete Anzug der Artikel-Nr. ... An der zutreffenden zolltariflichen Einreihung der vom Kläger im Rahmen seiner Mitwirkungspflicht übergebenen Ware bestünden keine Zweifel.
Entscheidungsgründe
Die Revision ist zulässig und begründet. Sie führt zur Aufhebung der Vorentscheidung und, weil die Sache nicht spruchreif ist, zur Zurückweisung der Sache an das FG zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung. Die Feststellungen des FG zu den Voraussetzungen, unter denen die Waren in die betreffenden Codenummern einzureihen sind, reichen nicht aus, um abschließend entscheiden zu können.
1. Die Revision ist nicht deshalb unzulässig, weil sie erst nach der in § 120 Abs. 1 Satz 1 FGO vorgeschriebenen Frist von einem weiteren Monat nach Ablauf der Frist zur Einlegung der Revision begründet worden ist. Insoweit ist dem Kläger Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren.
Wiedereinsetzung in den vorigen Stand wird gewährt, wenn jemand ohne Verschulden gehindert war, eine gesetzliche Frist, hier die Revisionsbegründungsfrist, einzuhalten (§ 56 Abs. 1 FGO). Der Prozeßbevollmächtigte des Klägers, dessen Verhalten dem Kläger wie eigenes zuzurechnen ist, hat innerhalb der durch § 56 Abs. 2 FGO vorgeschriebenen Frist von zwei Wochen die Tatsachen zur Begründung des Antrags vorgetragen und glaubhaft gemacht (vgl. dazu BFH-Beschlüsse vom 20. Februar 1990 VII R 125/89, BFHE 159, 573, BStBl II 1990, 546; vom 20. Juli 1983 II R 211/81, BFHE 139, 15, BStBl II 1983, 681; vom 6. Februar 1985 II R 73/83, BFH/NV 1986, 30; vom 10. Oktober 1988 IV R 202/85, BFH/NV 1990, 42; vom 9. Juli 1992 IV R 102/91, BFH/NV 1993, 37), daß ihn kein Verschulden an der Versäumung der Frist des § 120 Abs. 1 Satz 1 FGO trifft. Aufgrund der vorgelegten Kopie der entsprechenden Seite des Postausgangsbuchs und der vorgelegten eidesstattlichen Versicherung der Kanzleiangestellten des Prozeßbevollmächtigten ist glaubhaft, daß der Antrag auf Verlängerung der Revisionsbegründungsfrist am 17. Januar 1994 zur Post gegeben worden ist. Bei ordnungs gemäßer Beförderung ist davon auszugehen, daß er spätestens am 19. Januar 1994 -- also noch vor Ablauf der Revisionsbegründungsfrist am 20. Januar 1994 -- beim FG hätte eingehen müssen (vgl. dazu BFH-Urteil vom 21. Juli 1987 VIII R 302/82, BFH/NV 1989, 304; Gräber/Ruban, Finanzgerichtsordnung, 3. Aufl., § 56 Rz. 29). Dies hätte zur Fristwahrung ausgereicht. Der Antrag ist zwar grundsätzlich an den BFH zu richten. Die Frist ist aber auch gewahrt, wenn der Antrag rechtzeitig beim FG eingeht (vgl. BFH-Urteil vom 7. April 1987 IX R 140/84, BFHE 150, 16, BStBl II 1987, 567). Da über den Antrag auch nach Fristablauf entschieden werden kann (vgl. BFH-Urteil vom 10. Dezember 1974 VIII R 128/70, BFHE 114, 330, BStBl II 1975, 338; weitere Nachweise bei Gräber/Ruban, a.a.O., 3. Aufl., § 120 Rz. 25), ist es unschädlich, wenn der Antrag -- wie im Streitfall geschehen -- erst kurz vor Fristablauf gestellt wird, und sich der Kläger nicht vor Ablauf der Frist nach dem Schicksal seines Antrags erkundigt (BFHE 114, 330). Das gilt jedenfalls dann, wenn er nach der bei dem entscheidenden Gericht bestehenden Praxis davon ausgehen darf, daß dem Verlängerungsantrag stattgegeben wird (vgl. BFH-Beschluß vom 16. April 1986 VIII R 43/85, BFH/NV 1986, 549--550; Beschlüsse des Bundesgerichtshofs -- BGH -- vom 2. Februar 1983 VIII ZB 1/83, Neue Juristische Wochenschrift -- NJW -- 1983, 1741; vom 14. Februar 1991 VII ZB 8/90, NJW 1991, 1359; Beschüsse des Bundesverfassungsgerichts -- BVerfG -- vom 28. Februar 1989 1 BvR 649/88, Steuerrechtsprechung in Karteiform -- StRK --, Finanzgerichtsordnung, § 56, Rechtsspruch 378; vom 11. Januar 1991 1 BvR 1435/89, StRK, Finanzgerichtsordnung, § 56, Rechtsspruch 387).
Die im Streitfall geltend gemachten Gründe, vor allem die Erkrankung eines Mitarbeiters, hätten für den erstmalig gestellten Antrag auf Verlängerung der Revisionsbegründungsfrist um einen Monat nach der hier bestehenden Praxis zur Gewährung der beantragten Fristverlängerung geführt.
In diesem Fall wäre es auch nicht geboten gewesen, sich nach Ablauf der gesetzlichen Begründungsfrist nach dem Schicksal des Verlängerungsantrags zu erkundigen.
Der Kläger hat auch innerhalb der Wiedereinsetzungsfrist von zwei Wochen die erforderliche Rechtshandlung nachgeholt (§ 56 Abs. 2 Satz 3 FGO). Bei dieser Rechtshandlung handelte es sich nicht um den -- hier allerdings nicht ausdrücklich gestellten -- Antrag auf Verlängerung der Revisionsbegründungsfrist. Erforderlich war vielmehr die Vorlage der Revisionsbegründung selbst innerhalb der nach § 56 Abs. 2 Satz 1 FGO vorgeschriebenen Frist von zwei Wochen (BFH-Beschluß vom 1. Dezember 1986 GrS 1/85, BFHE 148, 414, BStBl II 1987, 264). Diese Frist hat der Kläger gewahrt.
2. a) Der Senat sieht aufgrund der Ausführungen des FG keinen Anlaß zu Zweifeln daran, daß eine einheitliche Tarifierung der eingeführten Waren als "Trainingsanzug" nach der Position 6211 der Verordnung (EWG) Nr. 2472/90 (VO Nr. 2472/90) der Kommission (Gemeinsamer Zolltarif -- GZT -- 1991) vom 31. Juli 1990 (ABlEG L 247/1) ausscheidet, daß sie vielmehr jeweils als Jacke in die Codenummer 6202 9300 0000 und als Hose in die Codenummer 6204 6319 0900 DGebrZT 1991 einzureihen sind, wenn sie gefüttert waren, und dafür der entsprechende Zoll aufgrund des im maßgebenden Zeitpunkt geltenden Zollsatzes von 14 % gemäß Art. 2 Abs. 1 NacherhebungsVO nachzuerheben war. Die Beteiligten haben die Vorentscheidung insoweit auch nicht angegriffen.
b) Bei den Ausführungen des FG läßt sich jedoch nicht nachvollziehbar entnehmen, wie es zu der seine Entscheidung tragenden Feststellung gelangt ist, die eingeführten Jacken und Hosen seien gefüttert gewesen. Das Urteil enthält insoweit nicht in nachvollziehbarer Weise die Gründe, die für die Überzeugungsbildung der Vorinstanz leitend gewesen sind (§ 96 Abs. 1 Satz 3 FGO) und kann deshalb keinen Bestand haben (vgl. Senatsurteil vom 27. Oktober 1987 VII R 18/83, BFHE 151, 270, 274).
Das FG hat für seine Feststellungen hinsichtlich der Beschaffenheit der eingeführten Waren entscheidend auf seine aus der Vernehmung des Zeugen A gewonnene Überzeugung abgestellt, daß diesem entgegen seiner Erklärung tatsächlich ein gefütterter Anzug aus den Einfuhrsendungen als Gegenleistung für seine Hilfe beim Entladen der streitbefangenen Waren übergeben worden und damit nicht dargetan sei, daß im Streitfall andere als die in dem Gutachten und in der Einspruchsentscheidung beschriebenen Waren eingeführt wurden.
Die Aussage des Zeugen A in seiner Vernehmung, der ihm vom Kläger aus einem der Kartons der streitbefangenen Waren übergebene Anzug stimme mit einem bestimmten, auf den ihm vorgelegten Abbildungen dargestellten Kleidungsstück überein, steht nicht notwendig im Gegensatz zu der Erklärung, daß die betreffenden Anzüge nicht gefüttert gewesen seien. Denn das FG führt nicht aus, daß bei dem abgebildeten Anzug ein Futter auf der Abbildung zu erkennen gewesen sei. Die Vorentscheidung enthält insoweit nur die Feststellung, der abgebildete Anzug habe die gleiche Beschaffenheit, wie der für die Erstellung der Gutachten untersuchte. Das FG legt aber nicht dar, wie es zu dieser Annahme gekommen ist. Das hat zur Folge, daß die Darlegungen des FG nicht geeignet sind, den von ihm aus der Vernehmung des Zeugen A gezogenen Schluß zu begründen, auch der diesem als Gegenleistung für seine Hilfe aus den eingeführten Sendungen übergebene Anzug sei gefüttert gewesen.
Da die Ausführungen des FG somit nicht nachvollziehbar die entscheidende Schlußfolgerung begründen, daß im Streitfall die in dem Gutachten und der Einspruchsentscheidung beschriebenen Waren -- gefütterte Hosen und Jacken -- eingeführt worden sind, ist die auf dieser Feststellung beru hende Vorentscheidung aufzuheben. Die Sache ist an das FG zurückzuverweisen, damit dieses die erforderlichen Feststellungen nachholen kann (§ 126 Abs. 3 Nr. 2 FGO).
Fundstellen
Haufe-Index 420206 |
BFH/NV 1995, 515 |