Entscheidungsstichwort (Thema)
Wiedereinsetzung in den vorigen Stand: Fristversäumung wegen Urlaubsabwesenheit
Leitsatz (redaktionell)
- Ein Urlaub in der allgemeinen Ferienzeit ist ein ausgesprochen naheliegender, der Lebenserfahrung entsprechender Versäumungsgrund.
- Da die Strafprozeßordnung selbst die Mittel der Glaubhaftmachung für die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nicht bezeichnet, kommen demnach schon nach einfachem Recht alle Mittel in Betracht, die generell geeignet sind, in einem ausreichenden Maße die Wahrscheinlichkeit des Vorbringens des Gesuchstellers darzutun; die volle richterliche Überzeugung von der Richtigkeit der behaupteten Tatsachen wird nicht gefordert.
- Wohnt dem Vorbringen selbst schon infolge seiner schlüssigen und erschöpfenden Darstellung eines ausgesprochen naheliegenden, der Lebenserfahrung entsprechenden Versäumungsgrundes eine nicht unerhebliche Wahrscheinlichkeit inne, so kann diese “schlichte”, d.h. nicht durch weitere Mittel der Glaubhaftmachung unterstützte Erklärung durchaus geeignet sein, die richterliche Überzeugung von der Wahrscheinlichkeit des behaupteten Versäumnisgrundes zu begründen.
Normenkette
GG Art. 19 Abs. 4, Art. 103 Abs. 1; StPO § 45; OWiG § 52
Verfahrensgang
LG Münster (Beschluss vom 05.11.1973; Aktenzeichen 7 Qs 865/73 VII) |
AG Tecklenburg (Beschluss vom 05.10.1973; Aktenzeichen 6 OWi 384/73) |
Gründe
A.
I.
1. Oberkreisdirektor des Kreises Tecklenburg (Ordnungsabteilung) erließ gegen den Beschwerdeführer am 2. August 1973 einen Bußgeldbescheid über 75,- DM wegen eines Verstoßes gegen Vorschriften über Schwertransporte auf der Straße (§§ 32, 69a, 70 StVZO, §§ 22, 29, 46, 49 StVO). Der Bußgeldbescheid wurde am 4. August 1973 durch Niederlegung bei der Postanstalt zugestellt. Der Beschwerdeführer befand sich nach seinen Angaben vom 3. bis zum 18. August 1973 mit seiner Familie auf einer Urlaubsreise nach Mallorca. Im Anschluß daran verbrachte er eine weitere Woche Urlaub bei seiner Schwiegermutter in Bad Salzdetfurth. Seine Ehefrau kehrte zur Erledigung einiger Besorgungen am 23. August 1973 kurzfristig in die Familienwohnung zurück. Sie fand dort die Benachrichtigung über die Niederlegung vor, holte den Bußgeldbescheid beim Postamt ab und suchte den Rechtsanwalt des Beschwerdeführers auf. Dieser bestellte sich nach telefonischer Rücksprache mit dem Beschwerdeführer noch mit Schriftsatz vom selben Tage zu dessen Verteidiger und legte Einspruch ein, zugleich beantragte er unter ausführlicher Darstellung der Urlaubsabwesenheit des Beschwerdeführers und der Umstände der Mandatserteilung die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand wegen Versäumung der Einspruchsfrist. Die Vorlage eidesstattlicher Versicherungen zur Glaubhaftmachung kündigte er für die Zeit der endgültigen Rückkehr des Beschwerdeführers aus dem Urlaub an. Der Schriftsatz des Verteidigers ging am 27. August 1973 bei der Kreisverwaltung ein. Einem weiteren Schriftsatz des Verteidigers vom 7. September 1973 lagen infolge eines Versehens die angekündigten eidesstattlichen Versicherungen nicht bei. Nach einem entsprechenden Hinweis durch das Amtsgericht wurden die Versicherungen, die das Datum des 3. September 1973 und den Eingangsstempel des Verteidigers vom 6. September 1973 tragen, dem Amtsgericht mit Schriftsatz vom 24. September, eingegangen am 26. September 1973, übersandt.
2. Mit dem Beschluß vom 5. Oktober 1973 verwarf das Amtsgericht Tecklenburg das Wiedereinsetzungsgesuch; die Glaubhaftmachung durch die eidesstattlichen Versicherungen sei erst am 26. September 1973 und damit nach Ablauf der Wochenfrist des § 45 StPO erfolgt.
3. Die sofortige Beschwerde, die in erster Linie damit begründet worden war, das Amtsgericht habe die Anforderungen an die Zulässigkeit eines Wiedereinsetzungsgesuchs überspannt und zu Unrecht die nachgereichten eidesstattlichen Versicherungen unberücksichtigt gelassen, verwarf das Landgericht Münster mit dem Beschluß vom 5. November 1973. Das Wiedereinsetzungsgesuch sei unzulässig. Die bloße Übermittlung von Angaben eines Betroffenen oder Beschuldigten durch seinen Verteidiger könne kein Mittel der Glaubhaftmachung sein, weil es sich dabei nicht um eigene Wahrnehmungen des Verteidigers hinsichtlich der Versäumungsgründe handele. Bei einem unzulässigen Wiedereinsetzungsgesuch aber könnten nach Ablauf der Wochenfrist des § 45 StPO angebotene Mittel der Glaubhaftmachung nicht mehr berücksichtigt werden.
4. Über den Einspruch des Beschwerdeführers ist noch nicht entschieden.
II.
Mit der Verfassungsbeschwerde macht der Beschwerdeführer eine Verletzung seines Grundrechts aus Art. 103 Abs. 1 GG geltend. Amtsgericht und Landgericht hätten die Anforderungen überspannt, die unter Beachtung des Anspruchs auf rechtliches Gehör an die Zulässigkeit eines Wiedereinsetzungsgesuchs gestellt werden dürften.
III.
Dem Justizminister des Landes Nordrhein-Westfalen ist Gelegenheit zur Äußerung gegeben worden. Er hat von einer Stellungnahme abgesehen.
B.
Die Verfassungsbeschwerde ist zulässig und begründet.
1. Der Bürger, gegen den eine Verwaltungsbehörde einen Bußgeldbescheid erläßt, muß nach Art. 19 Abs. 4 GG die Möglichkeit haben, gegen diesen ihn belastenden Akt der öffentlichen Gewalt ein Gericht anzurufen (vgl. BVerfGE 27, 18 [33 f.], 36 [43]). Das Gesetz über Ordnungswidrigkeiten stellt als Mittel hierfür den Einspruch bereit. Er ist gemäß § 67 des Gesetzes innerhalb der verhältnismäßig kurzen Frist von einer Woche einzulegen. Wird diese Frist versäumt, so hängt die Möglichkeit, den in Art. 19 Abs. 4 GG gewährleisteten Rechtsschutz durch eine richterliche Entscheidung in der Sache zu erhalten, davon ab, daß dem Betroffenen gegen die Fristversäumung die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegeben wird.
Mit dem Gesuch auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand ist zugleich der versäumte Einspruch nachzuholen. Der Einspruch zielt auf eine vollständige richterliche Überprüfung des Bußgeldbescheids in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht (vgl. BVerfGE 27, 18 [33 f.]). Die Wiedereinsetzung ist damit hier, wie auch für den Beschuldigten in den summarischen Strafverfahren des Strafbefehls und der Strafverfügung (vgl. dazu BVerfGE 25, 158 (166); 26, 315 [318]; 31, 388 [390]) die letzte Möglichkeit für den Betroffenen, in der Sache selbst vom Richter gehört zu werden und so rechtliches Gehör im Sinne von Art. 103 Abs. 1 GG zu erhalten.
In diesen Fällen des “ersten Zugangs” zum Gericht dient das Recht der Wiedereinsetzung in den vorigen Stand mithin unmittelbar der Verwirklichung verfassungsrechtlich verbürgter Rechtsschutzgarantien. Deshalb dürfen in diesem Zusammenhang bei der Anwendung und Auslegung der für die Wiedereinsetzung maßgeblichen prozeßrechtlichen Vorschriften die Anforderungen daran nicht überspannt werden, was der Betroffene veranlaßt haben und vorbringen muß, um nach einer Fristversäumung die Wiedereinsetzung zu erhalten. Das ist ein in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts gefestigter Grundsatz (BVerfGE 25, 158 [166]; 26, 315 [318]; 31, 388 [390]; 34, 154 [156]; 35, 296 [298]; ferner die Beschlüsse vom 2. April 1974 – 2 BvR 444/73 und 2 BvR 784/73, BVerfGE 37, 93 ff. und 100 ff.). Ihn verkennen die angegriffenen Entscheidungen.
2. Die Strafprozeßordnung, deren Vorschriften nach § 52 OWiG bei der Versäumung der Einspruchsfrist im Bußgeldverfahren entsprechend gelten, verlangt, daß innerhalb der Wochenfrist für das Wiedereinsetzungsgesuch zugleich die Versäumungsgründe angegeben und glaubhaft gemacht werden (§ 45 StPO); geschieht das nicht, so ist das Wiedereinsetzungsgesuch nach herrschender Meinung unzulässig (vgl. Löwe-Rosenberg (Dünnebier), StPO, 22. Aufl. (1971), § 45 Anm. 7 m.w.N.). Mithin dürfen auch die Anforderungen an diese Zulässigkeitsvoraussetzung der fristgerechten Glaubhaftmachung nicht überspannt werden, damit der verfassungsrechtliche Anspruch des Betroffenen auf den Zugang zum Gericht und auf Anhörung in der Sache nicht verkürzt wird (vgl. BVerfGE 26, 315 [319]). Dabei ist zu beachten, daß die Strafprozeßordnung selbst die Mittel der Glaubhaftmachung für die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nicht bezeichnet. Es kommen demnach schon nach einfachem Recht alle Mittel in Betracht, die generell geeignet sind, in einem ausreichenden Maße die Wahrscheinlichkeit des Vorbringens des Gesuchstellers darzutun; die volle richterliche Überzeugung von der Richtigkeit der behaupteten Tatsachen wird nicht gefordert (vgl. statt aller Löwe-Rosenberg (Dünnebier), a.a.O. Anm. 5). Wohnt dem Vorbringen selbst schon infolge seiner schlüssigen und erschöpfenden Darstellung eines ausgesprochen naheliegenden, der Lebenserfahrung entsprechenden Versäumungsgrundes eine nicht unerhebliche Wahrscheinlichkeit inne, so kann diese “schlichte”, d.h. nicht durch weitere Mittel der Glaubhaftmachung unterstützte Erklärung durchaus geeignet sein, die richterliche Überzeugung von der Wahrscheinlichkeit des behaupteten Versäumnisgrundes zu begründen (BVerfGE 26, 315 [320]). Es bedarf dann für die Zulässigkeit des Wiedereinsetzungsgesuchs keiner weiteren Mittel der Glaubhaftmachung mehr, und es ist deshalb auch unschädlich, wenn weitere Mittel angekündigt, aber nicht fristgerecht dem Gericht vorgelegt werden.
3. Ein Urlaub in der allgemeinen Ferienzeit, wie er hier vom Verteidiger des Beschwerdeführers im Wiedereinsetzungsgesuch in allen für die Beurteilung seiner Wahrscheinlichkeit wesentlichen Einzelheiten mitgeteilt wurde, ist ein ausgesprochen naheliegender, der Lebenserfahrung entsprechender Versäumungsgrund (BVerfGE 26, 315 [320]; Beschluß vom 2. April 1974 – 2 BvR 784/73, BVerfGE 37, 100). Die angegriffenen Entscheidungen überspannen mithin die Anforderungen daran, was der Beschwerdeführer zur Glaubhaftmachung vorbringen mußte. Daran ändert es nichts, daß der Beschwerdeführer nicht persönlich den Versäumungsgrund vorgetragen, sondern der Verteidiger in seinem Auftrag schriftsätzlich die Gründe der Säumnis übermittelt hat. Im vorliegenden Falle hätte die “schlichte Erklärung” des Beschwerdeführers selbst zur Glaubhaftmachung ausreichen können. Der Rechtsanwalt ist gemäß § 3 der Bundesrechtsanwaltsordnung dazu berufen, das Vorbringen seines Mandanten dem Gericht zu übermitteln. In Anbetracht dessen ist, falls keine konkreten Anhaltspunkte für das Gegenteil bestehen, für die Annahme kein Raum, daß die zulässige Übermittlung durch den Rechtsanwalt ein Vorbringen des Antragstellers “weniger glaubhaft” macht. Das bedarf – und davon geht wohl auch das Landgericht aus – angesichts der Stellung des Rechtsanwalts als Organ der Rechtspflege und seiner selbstverständlichen standesrechtlichen Pflicht, den Vortrag seines Mandanten nicht zu verfälschen, keiner weiteren Begründung.
4. Auf den genannten Verfassungsverstößen können die angegriffenen Entscheidungen beruhen. Es ist nicht auszuschließen, daß die Gerichte das Wiedereinsetzungsgesuch als zulässig angesehen hätten, wenn sie die Bedeutung und Tragweite von Art. 19 Abs. 4 und Art. 103 Abs. 1 GG für das Recht der Wiedereinsetzung in den vorigen Stand in Bußgeldverfahren beachtet hätten. Sie hätten dann in die Sachprüfung eintreten und dabei, wie das Landgericht zu Recht hervorgehoben hat, auch die nachgereichten eidesstattlichen Versicherungen berücksichtigen müssen (vgl. dazu den Beschluß vom 2. April 1974 in der Sache 2 BvR 444/73 zu B.… 4, BVerfGE 37, 93 [99]).
5. Die angefochtenen Entscheidungen sind deshalb aufzuheben. Die Sache ist gemäß § 95 Abs. 2 BVerfGG an das Gericht erster Instanz zurückverwiesen worden.
6. Diese Entscheidung ist einstimmig ergangen. BVerfGE 37, 93 ff. und 100 ff.
Fundstellen
BVerfGE, 35 |
NJW 1974, 1902 |