Entscheidungsstichwort (Thema)
Befangenheit eines Richters des BVerfG. Richterablehnung
Leitsatz (redaktionell)
1. Wissenschaftliche Äußerungen zu einer für das Verfahren bedeutsamen Rechtsfrage für sich genommen sind kein Befangenheitsgrund. Anlaß zu Zweifeln an der Unvoreingenommenheit des Richters kann jedoch bestehen, wenn die Nähe dieser Äußerungen zu der von einem Beteiligten vertretenen Rechtsauffassung bei einer Gesamtbetrachtung nicht zu übersehen ist und die wissenschaftliche Tätigkeit des Richters vom Standpunkt anderer Beteiligter aus die Unterstützung dieses Beteiligten bezweckte. Die Sorge, daß der Richter die streitige Rechtsfrage nicht mehr offen und unbefangen beurteilen werde, ist dann bei lebensnaher Betrachtung verständlich. Gleiches gilt, wenn ein Richter Äußerungen zu verfassungsrechtlichen Fragen als Bevollmächtigter eines an einem früheren Verfahren vor dem BVerfG Beteiligten abgegeben hat und der in dem früheren Verfahren verfolgte Rechtsstandpunkt auch in anhängigen Verfahren von wesentlicher Bedeutung ist.
2. Im Verfahren über die Normenkontrollanträge der Länder Bremen, Niedersachsen und Schleswig-Holstein betreffend das Gesetz über den Finanzausgleich zwischen Bund und Ländern vom 23. Juni 1993 (BGBl I S. 944, S. 977 ff.), zuletzt geändert durch das Gesetz zur Änderung des Gesetzes über die Errichtung eines Fonds "Deutsche Einheit" und des Gesetzes über den Finanzausgleich zwischen Bund und Ländern vom 16. Juli 1998, BGBl I S. 1290 war Richter Kirchhof nicht befangen.
Normenkette
FinAusglG 1993; BVerfGG § 18 Abs. 2, 3 Nr. 2, § 19 Abs. 3, § 18 Abs. 1 S. 1
Tenor
Der von dem Richter Kirchhof mit dienstlicher Erklärung vom 22. Juni 1999 angezeigte Sachverhalt begründet nicht die Besorgnis der Befangenheit.
Der Ablehnungsantrag im Verfahren 2 BvF 2/99 wird zurückgewiesen.
Tatbestand
I.
Das Zwischenverfahren betrifft die dienstliche Erklärung des Richters Kirchhof vom 22. Juni 1999 und den Ablehnungsantrag gemäß § 19 Abs. 1 Satz 1 BVerfGG der Länder Bremen, Niedersachsen und Schleswig-Holstein im Verfahren 2 BvF 2/99.
- Die Normenkontrollanträge betreffen das Gesetz über den Finanzausgleich zwischen Bund und Ländern (Finanzausgleichsgesetz – FAG –) vom 23. Juni 1993 (BGBl I S. 944 ≪S. 977 ff.≫, zuletzt geändert durch das Gesetz zur Änderung des Gesetzes über die Errichtung eines Fonds “Deutsche Einheit” und des Gesetzes über den Finanzausgleich zwischen Bund und Ländern vom 16. Juli 1998, BGBl I S. 1290). Die Antragsteller in den Verfahren 2 BvF 2/98, 2 BvF 3/98 und 2 BvF 1/99 halten verschiedene Vorschriften des Finanzausgleichsgesetzes für verfassungswidrig. Die Antragsteller im Verfahren 2 BvF 2/99 begehren die Feststellung, daß diese Vorschriften mit dem Grundgesetz vereinbar sind.
Richter Kirchhof hat am 22. Juni 1999 folgende Erklärung abgegeben:
“In der Öffentlichkeit sind Bedenken gegen meine Unbefangenheit in den obigen Verfahren geäußert worden. Ich teile dem Senat deshalb folgenden Sachverhalt mit:
Das Land Baden-Württemberg hat mich 1980 beauftragt, zur Vorbereitung einer Verständigung im Bundesrat über ein zukünftiges Finanzausgleichsgesetz ein Gutachten zum Länderfinanzausgleich zu erstellen. Die Ergebnisse dieser im September 1981 vorgelegten Begutachtung sind 1982 veröffentlicht worden. Später – 1983 – habe ich die Prozeßvertretung des Landes Baden-Württemberg in dem damaligen Verfahren zum Länderfinanzausgleich übernommen.
1992 hat das Bundesverfassungsgericht – wiederum der Zweite Senat – erneut über das FAG entschieden. An diesem Verfahren habe ich als Richter mitgewirkt.
Meine Begutachtung liegt 18 Jahre, meine Prozeßvertretung 13 Jahre zurück. Seit mehr als 11 Jahren übe ich das Amt eines Verfassungsrichters aus. Während dieser Zeit haben die Entwicklung des FAG, die Rechtsprechung, die Wiedervereinigung Deutschlands und eine umfangreiche neuere Literatur, insbesondere mehrere nach der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 24. Juni 1986 erschienene Habilitationsschriften zum Finanzausgleich Anlaß gegeben, die Fragen des horizontalen und vertikalen Finanzausgleichs immer wieder finanzwirtschaftlich und verfassungsrechtlich zu durchdenken.
Nachdem meine Unbefangenheit gleichwohl in Zweifel gezogen wird, beantrage ich – in allen vier Verfahren – eine Entscheidung des Senats gemäß § 19 Abs. 3 BVerfGG (vgl. BVerfGE 88, 17 ≪22≫).”
Im Verfahren 2 BvF 2/99 haben die Antragsteller den Richter Kirchhof mit Schriftsatz vom 9. Juni 1999 wegen Besorgnis der Befangenheit abgelehnt. Zur Begründung wird vor allem vorgetragen:
Eine Besorgnis der Befangenheit bestehe nicht, wenn ein Richter des Bundesverfassungsgerichts lediglich seine wissenschaftliche Meinung zu einer Frage geäußert habe, über die nunmehr vom Bundesverfassungsgericht unter seiner Mitwirkung zu entscheiden sei. Dagegen führe schon die Erstellung eines Gutachtens oder eine Äußerung als Sachverständiger zur Besorgnis der Befangenheit, wenn der Gutachtenauftrag oder die Benennung als Sachverständiger in einem spezifischen Erwartungshorizont stehe. Das gleiche gelte, wenn wissenschaftlichen Äußerungen in der Fachöffentlichkeit eine unterstützende Funktion für eine bestimmte Rechtsauffassung zugemessen werde, über die das Bundesverfassungsgericht zu entscheiden habe, und wenn die Auftraggeber eines Rechtsgutachtens in ihrem Vorbringen vor dem Bundesverfassungsgericht auf dieses Rechtsgutachten verwiesen. Sowohl der Erwartungshorizont als auch die Wahrnehmung einer unterstützenden Funktion “infizierten” gewissermaßen die wissenschaftliche Äußerung und führten dazu, daß eine Partei eines Verfahrens vor dem Bundesverfassungsgericht besorgen könne, der betreffende Richter könnte der streitbefangenen Rechtsfrage im Prozeß nicht mehr mit der erforderlichen Unbefangenheit gegenübertreten.
Dies gelte vor allem, wenn der wissenschaftlichen Meinung eine besondere Gewährfunktion zukomme. Von einer solchen sei auszugehen, wenn die wissenschaftliche Meinung nicht mehr ausschließlich um der wissenschaftlichen Erkenntnis willen geäußert werde, sondern darüber hinaus dem Erreichen eines bestimmten – außerhalb der Wissenschaft verorteten – Zieles diene, das nicht der Wissenschaftler selbst, sondern ein Auftraggeber bestimme, der damit bestimmte Erwartungen gerade gegenüber diesem Wissenschaftler verbinde. Ein entsprechender Erwartungsdruck könne selbst dann, wenn er tatsächlich die Bildung der wissenschaftlichen Meinung bei dem betroffenen Wissenschaftler völlig unberührt lasse, nach außen hin so wirken, als könne die wissenschaftliche Meinungsbildung von heteronomen Motiven, die nicht allein im Bemühen um wissenschaftliche Erkenntnis wurzelten, geprägt gewesen sein. Der Anschein einer derartigen Prägung könnte in einem späteren Verfahren vor dem Bundesverfassungsgericht fortwirken. Das sei um so stärker der Fall, je nachhaltiger sich der Richter mit der wissenschaftlichen Meinung, der zugleich eine Gewährfunktion zukomme, identifiziert habe.
Vorliegend habe der Richter Kirchhof nicht nur für das Land Baden-Württemberg als Zahlerland im Länderfinanzausgleich in einem Rechtsgutachten eine Position entwickelt, die nach den Intentionen der auftraggebenden Landesregierung dazu dienen sollte, die Zahlungspflichten der Geberländer zu verringern. Er habe die im Gutachten begründete Rechtsauffassung vielmehr auch als Prozeßbevollmächtigter des Landes vor dem Bundesverfassungsgericht im ersten Verfahren über den Länderfinanzausgleich vertreten. Er habe damit über die Erstellung eines wissenschaftlichen Gutachtens hinaus Partei in einem Verfassungsrechtsstreit ergriffen und seine Auffassung als Verfahrensbevollmächtigter im Interesse seiner Auftraggeber vor dem Bundesverfassungsgericht durchzusetzen versucht. Er habe damit eine besondere Gewährfunktion für die von ihm entwickelte Auffassung übernommen, die dem Erwartungshorizont der auftraggebenden Regierung eines Landes entspreche, das im Länderfinanzausgleich Zahlerland sei.
Die damalige Auftraggeberin verweise in dem nunmehr anhängigen Rechtsstreit vor dem Bundesverfassungsgericht zur Unterstützung ihrer Rechtsauffassung auf die Ausführungen, die Richter Kirchhof zunächst in seinem Rechtsgutachten entwickelt und dann für die Regierung des Landes Baden-Württemberg vor dem Bundesverfassungsgericht vertreten habe. Die anhängigen Normenkontrollverfahren zum Länderfinanzausgleich spiegelten die unterschiedlichen Interessen der Geber- und Nehmerländer im Länderfinanzausgleich wider. Das von Richter Kirchhof erstellte Rechtsgutachten wirke noch heute fort. Die Normenkontrollanträge von Baden-Württemberg und Bayern stellten sich inhaltlich in Zielrichtung und Gedankenführung im wesentlichen als Wiederholung der verfassungsrechtlichen Angriffe gegen das Finanzausgleichsgesetz dar, die Richter Kirchhof 1982 in seinem Gutachten für das Land Baden-Württemberg entwickelt und als Prozeßvertreter dieses Landes vor das Bundesverfassungsgericht getragen habe.
- Die Antragsteller in den Normenkontrollverfahren und die Äußerungsberechtigten hatten Gelegenheit zur Stellungnahme.
Entscheidungsgründe
II.
1. Der Richter Kirchhof hat – mit dem Antrag auf Entscheidung des Senats – Umstände angezeigt, aufgrund derer seine Unbefangenheit in Zweifel gezogen wird. Das läßt es geboten erscheinen, einen Beschluß des Senats gemäß § 19 Abs. 3 i.V.m. § 19 Abs. 1 BVerfGG herbeizuführen (vgl. BVerfGE 88, 17 ≪22≫).
2. Die von Richter Kirchhof angezeigten Umstände geben keinen Anlaß, an seiner Unvoreingenommenheit zu zweifeln.
a) Die Besorgnis der Befangenheit eines Richters des Bundesverfassungsgerichts nach § 19 BVerfGG setzt einen Grund voraus, der geeignet ist, Zweifel an seiner Unparteilichkeit zu rechtfertigen. Es kommt mithin nicht darauf an, ob der Richter tatsächlich “parteilich” oder “befangen” ist oder ob er sich selbst für befangen hält. Entscheidend ist ausschließlich, ob ein am Verfahren Beteiligter bei vernünftiger Würdigung aller Umstände Anlaß hat, an der Unvoreingenommenheit des Richters zu zweifeln (vgl. BVerfGE 88, 17 ≪22 f.≫).
Wissenschaftliche Äußerungen zu einer für das Verfahren bedeutsamen Rechtsfrage können für sich genommen kein Befangenheitsgrund sein. Es muß etwas Zusätzliches gegeben sein, das über die in § 18 Abs. 2 und 3 BVerfGG genannten Ausschließungsgründe hinausgeht, damit eine Besorgnis der Befangenheit als begründet erscheinen kann (vgl. BVerfGE 82, 30 ≪38≫). Anlaß zu Zweifeln an der Unvoreingenommenheit des Richters kann danach bestehen, wenn die Nähe wissenschaftlicher Äußerungen zu der von einem Beteiligten vertretenen Rechtsauffassung bei einer Gesamtbetrachtung nicht zu übersehen ist und überdies die wissenschaftliche Tätigkeit des Richters vom Standpunkt anderer Beteiligter aus die Unterstützung dieses Beteiligten bezweckte. Die Sorge, daß der Richter die streitige Rechtsfrage nicht mehr offen und unbefangen beurteilen werde, ist dann bei lebensnaher Betrachtungsweise verständlich (vgl. BVerfGE 98, 134 ≪137 f.≫). Gleiches gilt, wenn ein Richter Äußerungen zu verfassungsrechtlichen Fragen als Bevollmächtigter eines an einem früheren Verfahren vor dem Bundesverfassungsgericht Beteiligten abgegeben hat und der in dem früheren Verfahren verfolgte Rechtsstandpunkt auch in anhängigen Verfahren von wesentlicher Bedeutung ist (BVerfGE 95, 189 ≪191 f.≫).
b) Bei vernünftiger Würdigung der von Richter Kirchhof mitgeteilten Umstände ist aus der Sicht der an den Verfahren der abstrakten Normenkontrolle Beteiligten und auch der in diesen Verfahren Äußerungsberechtigten (vgl. §§ 76 Abs. 1 Satz 1, 77 BVerfGG) eine Besorgnis der Befangenheit nicht begründet.
Dem Gutachtenauftrag des Landes Baden-Württemberg an den Richter Kirchhof im Jahre 1980 hatte sich die Prozeßvertretung für dieses Land vor dem Bundesverfassungsgericht im Jahre 1983 angeschlossen. Gutachtertätigkeit und Prozeßvertretung hatten dann mit dem Urteil des Zweiten Senats vom 24. Juni 1986 (BVerfGE 72, 330) ihren Abschluß gefunden. Eine Besorgnis der Befangenheit des Richters Kirchhof kann nicht daraus hergeleitet werden, daß seine damalige Tätigkeit als Gutachter und Prozeßbevollmächtigter für die Landesregierung Baden-Württemberg bis in die hier anhängigen Verfahren der abstrakten Normenkontrolle gleichsam fortwirke. Im Unterschied zu den in BVerfGE 95, 189 und BVerfGE 98, 134 vom Ersten Senat beurteilten Sachverhalten fehlt es in bezug auf die nunmehr anhängigen Normenkontrollverfahren zum Finanzausgleich zwischen Bund und Ländern sowohl in zeitlicher als auch in sachlicher Hinsicht an einer Beziehung des Richters Kirchhof zur antragstellenden Landesregierung von Baden-Württemberg, die sich als Übernahme einer “Gewährfunktion” (vgl. BVerfGE 82, 30 ≪39≫) für den vom antragstellenden Land vertretenen verfassungsrechtlichen Standpunkt verstehen ließe. Gutachtertätigkeit und Prozeßvertretung waren in den vom Ersten Senat entschiedenen Fällen (vgl. auch BVerfGE 88, 1) zeitlich und sachlich durch die Initiative des jeweils betroffenen Richters mit den zur Entscheidung anstehenden Verfahren verklammert. Eine solche zeitliche und sachliche Verklammerung zwischen den Tätigkeiten des Richters Kirchhof in den Jahren 1981 und 1983 und den nunmehr rechtshängigen Normenkontrollanträgen fehlt. Es bestehen insbesondere keine Anhaltspunkte dafür, daß der Richter Kirchhof allein durch sein Gutachten aus dem Jahre 1981 und mit seiner Prozeßvertretung für das Land Baden-Württemberg im Jahre 1983 dieses jetzt im Jahre 1998 eingeleitete Normenkontrollverfahren zum inzwischen neu geregelten Länderfinanzausgleich veranlaßt haben könnte. Andere “Mitwirkungshandlungen” des Richters, die im nunmehr gestellten Antrag ihren Niederschlag gefunden haben könnten, sind ebenfalls nicht ersichtlich.
Die damalige Prozeßvertretung ist mit dem Abschluß jenes Verfahrens beendet worden. Das für die Landesregierung Baden-Württemberg damals erstattete Gutachten sollte nach seinem Zweck die Verständigung im Bundesrat über ein zukünftiges Finanzausgleichsgesetz vorbereiten. Allein schon der zeitliche Abstand von rund 18 Jahren läßt bei verständiger Würdigung nicht den Schluß zu, Richter Kirchhof habe die Landesregierung Baden-Württemberg damit beeinflußt, das nunmehr eingeleitete Normenkontrollverfahren anzustrengen. Das seinerzeit als “Auftragsgutachten” erstellte Werk hat schon durch den Zeitablauf einen qualitativen Wandel erfahren; es steht nunmehr gleichrangig neben anderen wissenschaftlichen Meinungen. Diese führen aber für sich allein weder zum Ausschluß eines Richters des Bundesverfassungsgerichts von der Ausübung seines Richteramtes (§ 18 Abs. 3 Nr. 2 BVerfGG) noch zur Ablehnung wegen Besorgnis der Befangenheit gemäß § 19 Abs. 1 BVerfGG.
Auch der Umstand, daß die Landesregierung Baden-Württemberg in ihrem Normenkontrollantrag vom 29. Juli 1998 wiederholt auf das seinerzeitige Gutachten des Richters Kirchhof Bezug nimmt, rechtfertigt keine andere Beurteilung. Dieses Vorgehen läßt bei vernünftiger Würdigung aus dem Blickwinkel der im abstrakten Normenkontrollverfahren beteiligten Staatsorgane ebenfalls keinen Schluß auf eine persönliche und sachliche Nähe des Richters Kirchhof zum Gegenstand der nun zur Entscheidung anstehenden Normenkontrollverfahren zu.
III.
Aus den vorstehenden Gründen kann auch der Ablehnungsantrag im Verfahren 2 BvF 2/99 keinen Erfolg haben.
IV.
Diese Entscheidung ist einstimmig ergangen.
Unterschriften
Limbach, Sommer, Jentsch, Hassemer, Broß, Osterloh
Fundstellen