Entscheidungsstichwort (Thema)
Unterbrechung der Strafverfolgungsverjährung durch Untersuchungseinleitung
Leitsatz (amtlich)
§ 419 Absatz 2 der Reichsabgabenordnung in der Fassung vom 22. Mai 1931 (Reichsgesetzbl. I S. 161) war mit dem Grundgesetz vereinbar.
Normenkette
AO §§ 402, 419 Abs. 2; GG Art. 3 Abs. 1, Art. 20 Abs. 3, Art. 92
Tatbestand
I.
1. Abweichend von der Regelung des § 68 Abs. 1 StGB war im Steuerstrafrecht schon unter der Geltung des § 419 Abs. 2 AO in der Fassung vom 22. Mai 1931 (RGBl. I S. 161) – AO 1931 – die Unterbrechung der Strafverfolgungsverjährung auch auf andere Weise als durch die Vornahme richterlicher Handlungen möglich. § 419 Abs. 2 AO 1931 lautete:
Die Einleitung der Untersuchung und der Erlaß eines Strafbescheids unterbrechen die Verjährung gegen den, gegen den sie gerichtet sind.
Aufgrund des Art. 1 Nr. 9 des am 13. August 1967 in Kraft getretenen Gesetzes zur Änderung strafrechtlicher Vorschriften der Reichsabgabenordnung und anderer Gesetze vom 10. August 1967 (BGBl I S. 877 – im folgenden: AOStrafÄndG 1967 – erhielt § 419 Abs. 2 AO 1931 folgende Fassung:
(2) Die Verjährung der Verfolgung von Steuervergehen wird auch dadurch unterbrochen, daß dem Beschuldigten die Einleitung des Strafverfahrens bekanntgegeben wird.
In Art. 6 § 1 Abs. 1 AOStrafÄndG 1967 (Übergangsvorschriften) wurde bestimmt:
(1) Strafbescheide der Finanzbehörden einschließlich der Beschwerdebescheide, die am 6. Juni 1967 noch nicht unanfechtbar waren, gelten als nicht erlassen; unberührt bleibt jedoch § 419 Abs. 2 der Reichsabgabenordnung vom 22. Mai 1931 (Reichsgesetzbl. I S. 161), zuletzt geändert durch die Finanzgerichtsordnung vom 6. Oktober 1965 (Bundesgesetzblatt I S. 1477, 1497).
Nunmehr (vgl. Art. 1 Nr. 17 des seit 1. Oktober 1968 in Kraft befindlichen Zweiten Gesetzes zur Änderung strafrechtlicher Vorschriften der Reichsabgabenordnung und anderer Gesetze vom 12. August 1968 – BGBl. I S. 953 gilt § 402 AO:
(1) Die Verfolgung von Steuervergehen verjährt in fünf Jahren.
(2) Die Verjährung der Verfolgung von Steuervergehen wird auch dadurch unterbrochen, daß dem Beschuldigten die Einleitung des Straf- oder Bußgeldverfahrens wegen der Tat bekanntgegeben wird.
2. a) Dem Angeklagten des Ausgangsverfahrens wird vorgeworfen, im Jahre 1959 vorsätzlich eine Verkürzung der Einkommensteuer für das Kalenderjahr 1957 bewirkt zu haben. Gegen den Angeklagten wurde hierwegen am 15. Juni 1962 die Untersuchung nach § 441 AO 1931 eingeleitet; die Einleitung wurde ihm mit Postzustellung am 25. Juni 1962 eröffnet. Die Zustellung der Anklageschrift an den Angeklagten wurde mit Verfügung des Amtsrichters vom 10. Oktober 1966 angeordnet. Das Schöffengericht verurteilte den Angeklagten wegen vorsätzlicher Steuerhinterziehung zu einer Geldstrafe. Gegen dieses Urteil haben der Angeklagte und die Staatsanwaltschaft Berufung eingelegt.
In der Berufungsverhandlung vom 15. August 1968 hat das Landgericht noch vor dem Eintritt in die Beweisaufnahme beschlossen, das Verfahren auszusetzen und die Entscheidung des BVerfG darüber einzuholen, ob § 419 Abs. 2 AO alter Fassung (AO 1931) und neuer Fassung (AOStrafÄndG 1967) mit Art. 92 GG vereinbar sei.
b) Zur Begründung der Vorlage führt das Landgericht aus: Bei Zugrundelegung der fünfjährigen Verjährungsfrist des § 419 Abs. 1 AO 1931 sei für die Entscheidung von Bedeutung, ob die Straftat (Tatzeit 1959) bis zur Vornahme der ersten richterlichen Handlung (Zustellung der Anklageschrift vom 10. Oktober 1966) bereits verjährt war oder ob die Strafverfolgungsverjährung durch die am 15. Juni 1962 verfügte Einleitung der Untersuchung und deren Bekanntmachung an den Angeklagten oder durch nachfolgende Untersuchungshandlungen der Finanzbehörde nach § 419 Abs. 2 AO alter und neuer Fassung wirksam unterbrochen worden ist. Im letzteren Falle sei die Verjährung nicht eingetreten. Komme hingegen den Untersuchungshandlungen der Finanzbehörde eine verjährungsunterbrechende Wirkung nicht zu, so sei das Strafverfahren wegen Verfolgungsverjährung gemäß § 206 a Abs. 1 StPO einzustellen.
Nach dem Urteil des BVerfG vom 6. Juni 1967 (BVerfGE 22, 49 obliege auch in Steuerstrafsachen die Strafgewalt ausschließlich den Gerichten. Ausübung der Strafgerichtsbarkeit bedeute nicht nur die Tätigkeit, durch die ein Strafverfahren aufgrund einer richterlichen Entscheidung abgeschlossen, sondern auch die richterliche Tätigkeit, durch die der Abschluß eines Strafverfahrens vorbereitet oder überhaupt erst ermöglicht werde. Die Befugnis zur Unterbrechung der Strafverfolgungsverjährung erscheine schon ihrem Inhalt nach als ein Teilstück rechtsprechender – und damit richterlicher – Tätigkeit. Dies gelte selbst dann, wenn man das Recht der Verjährung als solches mehr dem Verfahrens- als dem materiellen Recht zuordne. Die Unterbrechung der Verfolgungsverjährung sei auch hinsichtlich ihrer Folgen von so weittragender Bedeutung, daß es nicht vertretbar erscheine, sie einer anderen Institution als dem unabhängigen Richter zu übertragen. Dieser Grundsatz habe für den Bereich des allgemeinen Strafrechts in § 68 StGB ausdrücklich seinen Niederschlag gefunden. Diese Regelung gelte gleichermaßen auch für Steuerstrafsachen. Den Finanzbehörden komme nach dem Änderungsgesetz 1967 lediglich die Stellung einer Ermittlungsbehörde, vergleichbar mit der Staatsanwaltschaft, zu; auch die Staatsanwaltschaft könne aber die Verjährung nicht durch eigene Handlungen unterbrechen.
3. Der BdF, der sich für die Bundesregierung geäußert hat, ist der Ansicht, § 419 Abs. 2 AO sei sowohl in der Fassung des Gesetzes von 1931 (AO 1931) als auch in der Fassung des Gesetzes vom 10. August 1967 (AOStrafÄndG 1967) mit dem Grundgesetz vereinbar. Die Herbeiführung der Verjährungsunterbrechung stelle keinen Akt der Rechtsprechung im materiellen Sinne dar. Die Unterbrechung der Verjährung sei auch bei § 68 StGB nicht an eine die Sache betreffende richterliche Entscheidung geknüpft, sondern trete kraft Gesetzes ein, wenn die gesetzlich festgelegten Voraussetzungen erfüllt seien. Die Regelung des § 68 Abs. 1 StGB beruhe demnach nicht auf dem Verfassungsgrundsatz des Art. 92 GG, § 419 Abs. 2 alter wie neuer Fassung verletze auch, nicht Art. 3 Abs. 1 GG. Hinsichtlich der Beweggründe des Gesetzgebers für die Abweichung des § 419 Abs. 2 AO von § 68 Abs. 1 StGB werde auf die Begründung des Regierungsentwurfs zum Entwurf eines Gesetzes zur Änderung strafrechtlicher Vorschriften der Reichsabgabenordnung und anderer Gesetze (BT-Drucks, V/1812 S. 26) verwiesen; diese Begründung treffe in gleicher Weise auf die bisherige Fassung dieser Vorschrift zu. Sie lautet wie folgt:
„Die Abweichung vom allgemeinen Strafrecht (vgl. § 68 Abs. 1 StGB) ist wegen der besonderen Umstände bei der Ermittlung von Steuervergehen weiterhin dringend geboten Steuervergehen werden zumeist durch Betriebsprüfungen entdeckt, die bei vielen Steuerpflichtigen nur in einem fünfjährigen Turnus stattfinden können. Auch nach der Entdeckung eines Steuervergehens vergeht noch geraume Zeit, ehe der verkürzte Steueranspruch rechtskräftig festgestellt worden ist, insbesondere dann, wenn der Beschuldigte den steuerlichen Rechtsmittelweg ausschöpft. Während des steuerlichen Rechtsmittelverfahrens ist es oft nicht zweckmäßig, das bereits eingeleitete Strafverfahren fortzusetzen, weil die steuergerichtliche Rechtsmittelentscheidung für die Feststellung der Steuerverkürzung von entscheidender Bedeutung sein kann.”
Entscheidungsgründe
II.
1. Von der gestellten Frage hängt ab, ob das vorlegende Gericht das Verfahren wegen Verjährung einzustellen hat oder ob es zur Sache verhandeln und entscheiden kann. Von den zur Prüfung vorgelegten beiden Fassungen des § 419 Abs. 2 AO kann freilich nur eine anzuwenden und damit entscheidungserheblich sein; das ist nach der klaren und auch unbedenklichen Vorschrift des Art. 6 § 1 Abs. 1 AOStrafÄndG 1967 die bis zum Inkrafttreten dieses Gesetzes geltende Fassung. Diese Fassung ist auch spätestens durch das AOStrafÄndG 1967 in den Willen des nachkonstitutionellen Gesetzgebers aufgenommen worden, womit die Prüfungszuständigkeit des BVerfG gegeben ist (BVerfGE 18, 257 [264]).
2. Das vorlegende Gericht meint, daß § 419 Abs. 2 AO 1931 mit Art. 92 GG unvereinbar gewesen sei, weil über die Unterbrechung der Verjährung nur der Richter entscheiden könne. Ob diese Ansicht vertretbar ist und die Vorlage damit der Begründungspflicht des § 80 Abs. 2 BVerfGG entspricht, mag angesichts des Wortlauts und des Sinnes des § 419 Abs. 2 AO 1931 zweifelhaft erscheinen. Diese Frage kann indessen dahingestellt bleiben, da die Auffassung des vorlegenden Gerichts jedenfalls offensichtlich unbegründet ist. § 419 Abs. 2 AO 1931 ist mit dem Grundgesetz vereinbar.
Nach § 419 Abs. 2 AO 1931 wurde die Verjährung der Strafverfolgung von Steuervergehen dadurch unterbrochen, daß dem Beschuldigten die Einleitung des Strafverfahrens bekanntgegeben wurde; § 68 StGB bestimmt, daß jede wegen der begangenen Tat gegen den Täter gerichtete Handlung des Richters die Verjährung unterbricht. In beiden Fällen ist also nicht etwa eine Entscheidung über eine Unterbrechung der Verjährung vorgesehen, sondern das Gesetz regelt die Unterbrechung selbst und unmittelbar dahin, daß sie mit gewissen, die Strafverfolgung betreffenden Handlungen automatisch eintritt. Infolgedessen kommt es für die Verjährungsunterbrechung z.B. durch richterliche Handlung weder auf den Willen noch auf den Mangel des Willens, die Verjährung zu unterbrechen, an. Zu § 68 StGB haben die Gerichte zudem wiederholt entschieden, daß eine lediglich dem Unterbrechungszweck dienende richterliche Handlung ohne sonstigen sachlichen Anlaß die Unterbrechung nicht herbeiführt (z.B. BGHSt 11, 335; 12, 335; 15, 234). Tritt aber die Unterbrechung der Verjährung unmittelbar aufgrund gesetzlicher Bestimmung und nicht etwa durch eine darauf gerichtete Entscheidung ein, so kann sich folgerichtigerweise die Frage überhaupt nicht stellen, ob § 419 Abs. 2 AO 1931 gegen Art. 92 GG verstößt, weil die Entscheidung über die Unterbrechung der Verjährung ein Akt der dem Richter anvertrauten rechtsprechenden Gewalt sei. Es bedarf keiner weiteren Erörterung, daß unter Umständen später bei der Urteilsfindung festgestellt werden muß, ob die Verjährung wirksam unterbrochen worden ist, und daß dies ein Akt der dem Richter vorbehaltenen Rechtsprechung ist; denn ebensowenig wie § 68 StGB bezieht sich § 419 Abs. 2 AO 1931 hierauf.
§ 419 Abs. 2 AO 1931 ist auch nicht etwa deshalb verfassungswidrig, weil es dem Rechtsstaatsprinzip widerspräche, wenn der Gesetzgeber die Unterbrechung der Verjährung an einen anderen Vorgang als einen Akt der Rechtsprechung anknüpfte. Ein solcher verfassungsrechtlicher Grundsatz besteht nicht. Daß § 68 StGB seit jeher eine Handlung des Richters voraussetzte, steht dem schon deshalb nicht entgegen, weil darunter auch solche Handlungen verstanden wurden, die ersichtlich nicht Akte der Rechtsprechung im Sinne des Art. 92 GG sind (etwa Aktenanforderungen oder Aktenversendungen, Einforderung von Strafregisterauszügen u. ä.).
3. Gegen die Regelung des § 419 Abs. 2 AO 1931 lassen sich aber auch im übrigen begründete Einwendungen verfassungsrechtlicher Art nicht herleiten. Insbesondere könnte eine Verletzung des Art. 3 Abs. 1 GG nach der Rechtsprechung des BVerfG nur bei Willkür des Gesetzgebers angenommen werden (BVerfGE 9, 334 [337]; 15, 167 [201]). Die für die unterschiedliche Behandlung einer Steuerstraftat und einer anderen Straftat im Regierungsentwurf zum Änderungsgesetz 1967 (BT-Drucks. V/1812 S. 26) angeführten Erwägungen, die auch bereits im Rahmen des § 419 Abs. 2 AO in der Fassung des Gesetzes von 1931 eine Rolle spielten, sind aber sachliche Beweggründe des Gesetzgebers, die Willkür nicht erkennen lassen.
Fundstellen
BStBl II 1971, 10 |
BVerfGE 29, 148 |
BVerfGE, 148 |