Entscheidungsstichwort (Thema)

Wiedereinsetzung in den vorigen Stand: verzögerte Postbeförderung wegen falscher Postanschrift

 

Leitsatz (redaktionell)

1. Im Rahmen der verfahrensrechtlichen Vorschriften über die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand dürfen dem Bürger Verzögerungen der Briefbeförderung oder -zustellung durch die Deutsche Bundespost, die er nicht zu vertreten hat, nicht als Verschulden angerechnet werden.

2. Wird ein Schriftstück mit der falschen Anschrift „Postfach …” sechs Tage vor Fristablauf zur Post gegeben, obwohl das Gericht kein Postfach hat, aber von der Post dann einem anderen Gericht in dessen Postfach gelegt und von diesem so an das zuständige Gericht weitergeleitet, dass es dort erst drei Tage nach Fristablauf eingeht, so ist der Anspruch auf rechtliches Gehör verletzt, wenn dem Antragsteller auf Wiedereinsetzung das pflichtwidrige, letztlich erst zur Fristversäumnis führende Handeln Dritter als Verschulden i. S. von § 233 ZPO zugerechnet wird.

 

Normenkette

GG Art. 103 Abs. 1; ZPO § 233

 

Verfahrensgang

LAG Köln (Beschluss vom 09.05.1989; Aktenzeichen 3 Sa 313/89)

 

Tatbestand

I.

Die Verfassungsbeschwerde richtet sich gegen Zurückweisung der Wiedereinsetzung in die versäumte Berufungsfrist.

1. Der Beschwerdeführer machte gegen die Beklagte des Ausgangsverfahrens arbeitsrechtliche Vergütungsansprüche in Höhe von 28.000 DM geltend. Das Arbeitsgericht wies die Klage durch Urteil vom 22. Dezember 1988, dem Beschwerdeführer zugestellt am 9. März 1989, ab. In der Rechtsmittelbelehrung war als Berufungsgericht das „Landesarbeitsgericht Köln, Blumenthalstraße 33, 5000 Köln 1” vermerkt. Mit Einschreiben gegen Rückschein seiner Bevollmächtigten vom 4. April 1989 legte der Beschwerdeführer Berufung ein an das „Landesarbeitsgericht Köln, Postfach, 5000 Köln”. Das Landesarbeitsgericht verfügt über kein Postfach. Durch ein Versehen der Deutschen Bundespost wurde die Berufungsschrift dem Postfach des Landgerichts Köln zugeführt. Am 10. April 1989, dem Tag des Ablaufs der Berufungsfrist – der 9. April 1989 war ein Sonntag – gelangte der Rückschein an die Prozeßbevollmächtigten des Beschwerdeführers zurück. Er enthielt unter der Rubrik „Sendung erhalten” eine Paraphe und unter dem Datum vom 7. April 1989 den Zustellvermerk des Postbezirks Köln 41. Am 20. April 1989 erhielten die Prozeßbevollmächtigten des Beschwerdeführers eine Mitteilung des Landesarbeitsgerichts vom 14. April 1989, die Berufung sei dort nach Weiterleitung durch das Landgericht Köln erst am 13. April 1989 eingegangen. Mit am 24. April 1989 bei Gericht eingegangenem Schriftsatz vom 21. April 1989 beantragte der Beschwerdeführer Wiedereinsetzung in den vorigen Stand. Am 11. Mai 1989 ging seine Berufungsbegründung beim Landesarbeitsgericht ein.

Durch Beschluß vom 9. Mai 1989 wies das Landesarbeitsgericht den Antrag auf Wiedereinsetzung in die versäumte Berufungsfrist zurück und verwarf die Berufung als unzulässig. Zur Begründung führte es im wesentlichen aus: Der Beschwerdeführer habe durch ihm zuzurechnendes Verschulden seiner Prozeßbevollmächtigten die Berufungsfrist nicht eingehalten. Die nicht nur unzureichende, sondern falsche Adressierung des Berufungsschriftsatzes habe dessen Weiterleitung zunächst an das Landgericht Köln und damit die Fristversäumnis verursacht. Daß auch der Post bei der Weiterleitung des Schriftsatzes und dem Vermerk auf dem Rückschein Fehler unterlaufen seien, helfe dem Beschwerdeführer nicht weiter. Die Vorschriften über die Wiedereinsetzung griffen nur ein, wenn eine Partei oder ihr Vertreter ohne Verschulden handelten. Ein Mitverschulden gehe zu Lasten der Wiedereinsetzung nachsuchenden Partei. Hätte der Beschwerdeführer nicht die Angabe „Postfach” gemacht, wäre es durchaus denkbar gewesen, daß die Post dann die fehlende Anschrift festgestellt hätte. Das Mitverschulden des Beschwerdeführers könne auch deshalb nicht vernachlässigt werden, weil das Landgericht die Berufungsschrift hätte schneller an das Landesarbeitsgericht weiterreichen können. Dem Landgericht sei die Berufung am Freitag, dem 7. April 1989, zugegangen. Es hätte ordnungsgemäßem Geschäftsablauf entsprochen, wenn der Fehler in der Adressierung erst am Montag, dem 10. April 1989, entdeckt worden wäre. Bei sofortiger Weiterleitung an das Landesarbeitsgericht wäre der Schriftsatz auch erst am 11. April 1989, und damit verspätet, dort eingegangen. Da der Sache keine besondere Bedeutung zukomme, sei die sofortige Beschwerde nicht zuzulassen.

2. Mit der am 1. Juni 1989 eingegangenen Verfassungsbeschwerde greift der Beschwerdeführer den Beschluß des Landesarbeitsgerichts an und rügt die Verletzung rechtlichen Gehörs. Zur Begründung führt er im wesentlichen aus:Das Landesarbeitsgericht habe die Tatsachen, die zur Versäumung der Berufungsfrist geführt hätten, nicht zutreffend gewürdigt und die Anforderungen an die Begründung eines Wiedereinsetzungsantrags überspannt. Von wesentlicher Bedeutung sei, daß der Beschwerdeführer die Berufungsschrift sechs Tage vor Fristablauf abgesandt und damit alle Schritte unternommen habe, um gegebenenfalls auch längere Postlaufzeiten einzubeziehen. Darüber hinaus habe der Beschwerdeführer aufgrund des Zustellungsdatums auf dem noch innerhalb der Berufungsfrist zurückgelangten Rückschein von der rechtzeitigen Berufungseinlegung ausgehen dürfen. Schließlich hätte der Beschwerdeführer noch rechtzeitig Berufung einlegen können, wenn die Post die Berufungsschrift, statt sie an das Landgericht Köln weiterzuleiten, mit dem Vermerk zurückgesandt hätte, das Landesarbeitsgericht verfüge über kein Postfach. Die Fristversäumung beruhe deshalb letztlich auf einem Fehlverhalten der Post. Das dürfe dem Beschwerdeführer nach der Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts und des Bundesgerichtshofs auch dann nicht zugerechnet werden, wenn er eine unrichtige oder unvollständige Anschrift verwandt, den Schriftsatz aber noch so rechtzeitig abgesandt habe, daß unter normalen Umständen mit einer fristgemäßen Zustellung noch zu rechnen gewesen sei. Dies habe das Landesarbeitsgericht nicht beachtet. Auf diesem Verfassungsverstoß beruhe die Entscheidung. Denn es könne nicht ausgeschlossen werden, daß das Landesarbeitsgericht dem Beschwerdeführer Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gewährt hätte, wenn es bei Auslegung der Bestimmungen über die Wiedereinsetzung den verfassungsrechtlichen Verfahrensgarantien hinreichend Rechnung getragen hätte.

3. Zu der Verfassungsbeschwerde hat sich die Beklagte des Ausgangsverfahrens geäußert. Sie hält die Zurückweisung des Wiedereinsetzungsgesuchs des Beschwerdeführers für verfassungsrechtlich in Ordnung, weil die Fristversäumung auf ein zurechenbares Verschulden der Prozeßbevollmächtigten des Beschwerdeführers – die unzureichende Adressierung der Berufungsschrift – zurückzuführen sei. Eine etwaige Mitverursachung Dritter sei unerheblich.

 

Entscheidungsgründe

II.

Die zulässige Verfassungsbeschwerde ist offensichtlich begründet (§ 93 b Abs. 2 Satz 1 BVerfGG). Der angegriffene Beschluß verletzt den Anspruch des Beschwerdeführers auf Gewährung rechtlichen Gehörs (Art. 103 Abs. 1 GG).

1. Das Bundesverfassungsgericht hat wiederholt entschieden, daß im Rahmen der verfahrensrechtlichen Vorschriften über die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand dem Bürger Verzögerungen der Briefbeförderung oder -zustellung durch die Deutsche Bundespost, die er nicht zu vertreten hat, nicht als Verschulden angerechnet werden dürfen (vgl. BVerfGE 44, 302 ≪302 f., 306≫; 53, 25 ≪29≫; 62, 216 ≪221≫; 62, 334 ≪336≫).

Das Landesarbeitsgericht hat diese Grundsätze bei der Auslegung und Anwendung des § 233 ZPO nicht beachtet. Der Beschwerdeführer hat die Berufungsschrift zwar mit der unzutreffenden Angabe „Postfach” versehen. Er hat sie jedoch bereits sechs Tage vor Fristablauf zur Post gegeben. Bei normalem Gang der Dinge hätte sie deshalb allenfalls mit geringfügiger Verspätung – aber jedenfalls innerhalb der Berufungsfrist – entweder trotzdem richtig zugestellt (der Sitz des Landesarbeitsgerichts muß der Post an sich bekannt sein) oder an den Absender zurückgeschickt werden müssen. Weiterhin hätte das Landgericht bei gewöhnlichem Lauf der Dinge nicht auf dem Rückschein den ordnungsmäßigen Eingang der Sendung bestätigen dürfen, sondern das Schreiben entweder zurückgehen lassen oder zumindest den Eingang beim Landgericht kenntlich machen müssen. Wenn nur einer von beiden, Post oder Landgericht, die Angelegenheit pflichtgemäß behandelt hätte, hätte der Prozeßbevollmächtigte des Beschwerdeführers die Berufungsfrist trotz der unzutreffenden Anschrift in der Berufungsschrift noch wahren können. Damit beruht die Fristversäumnis letztlich nicht auf der falschen Adressierung. Denn ein solcher Zusammenhang wird erst durch die vom Beschwerdeführer zwar verursachten, ihm aber vom Normzweck des § 233 ZPO her nicht zuzurechnenden (weiteren) Fehlleistungen der Post und des Landgerichts hergestellt (vgl. hierzu auch die Rechtsprechung des BGH ≪VersR 1974, S. 1001≫ und des BAG ≪AP Nrn. 54, 59 und 72 zu § 233 ZPO; AP Nr. 13 zu § 233 ZPO 1977≫, die zutreffend ein Verschulden im Sinne des § 233 ZPO verneinen, wenn ein Fehler des die Wiedereinsetzung Beantragenden bei gewöhnlichem Verlauf der Dinge und pflichtgemäßem Handeln anderer Stellen ausgeglichen worden wäre, aber infolge eines für den Antragsteller unabwendbaren Zufalls unterblieben ist). Indem das Landesarbeitsgericht dem Beschwerdeführer auch das pflichtwidrige, letztlich erst zur Fristversäumnis führende Handeln der Post und des Landgerichts als Verschulden im Sinne von § 233 ZPO zurechnet, verkennt es Bedeutung und Tragweite des Grundrechts auf rechtliches Gehör.

2. Die angegriffene Entscheidung beruht auf dem festgestellten Verfassungsverstoß. Es kann nicht ausgeschlossen werden, daß die Berufung des Beschwerdeführers ohne Verletzung des Art. 103 Abs. 1 GG Erfolg gehabt hätte.

III.

Der angegriffene Beschluß war gemäß § 95 Abs. 2 BVerfGG aufzuheben und die Sache an das Landesarbeitsgericht zurückzuverweisen.

IV.

Die Entscheidung über die Erstattung der notwendigen Auslagen des Beschwerdeführers beruht auf § 34 a Abs. 2 BVerfGG.

Diese Entscheidung ist unanfechtbar.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1535761

Dieser Inhalt ist unter anderem im Haufe Finance Office Premium enthalten. Sie wollen mehr?


Meistgelesene beiträge