Entscheidungsstichwort (Thema)
Abzugsfähigkeit der Kinderbetreuungskosten berufstätiger Eltern
Leitsatz (redaktionell)
1. Daß die Kosten für die Beschäftigung einer Haushaltshilfe zur Betreuung ihrer vier Kinder im Alter von 8 bis 16 Jahren berufstätigen, zusammen zur Einkommensteuer veranlagten Eltern im Streitjahr 1995 weder als Werbungskosten noch als außergewöhnliche Belastung anerkannt worden sind, ist von Verfassungs wegen nicht zu beanstanden.
2. Die Anordnung der Weitergeltung der als verfassungswidrig erkannten § 32 Abs. 7, § 33c EStG (vgl. BVerfG vom 10. 11. 1998 2 BvR 980/91, BVerfGE 99, 216 ) bedeutet, daß die Fachgerichte diese Vorschriften bis zum Ablauf der entsprechenden Frist anzuwenden und ihren Entscheidungen weiterhin zugrunde zu legen haben.
3. Zum Begriff der "Anstoßwirkung" einer Verfassungsbeschwerde und sog. Anlaßfällen.
4. Das deutsche Verfassungsprozeßrecht enthält derzeit keine Regelung, die eine Begünstigung von Anlaßfällen unabhängig von einem entsprechenden Ausspruch in der Grundsatzentscheidung allgemein anordnet.
5. § 10 Abs. 1 Nr. 8 EStG konnte die verfassungswidrige Vernachlässigung des Kinderbetreuungsbedarfs nicht allgemein kompensieren (Leitsätze nicht amtlich).
Normenkette
GG Art. 3 Abs. 1, Art. 6 Abs. 1; EStG § 10 Abs. 1 Nr. 8, § 12 Nr. 1, § 32 Abs. 7, § 33c Abs. 1-4; BVerfGG § 93a Abs. 2 Buchst. b
Verfahrensgang
Tenor
Die Verfassungsbeschwerde wird nicht zur Entscheidung angenommen.
Tatbestand
A.
Die Verfassungsbeschwerde betrifft die Frage, ob die einkommensteuerrechtliche Behandlung zusammenveranlagter Eltern mit vier minderjährigen Kindern in dem Fall, in dem beide Eltern berufstätig waren, in dem Streitjahr 1995 verfassungswidrig war.
I.
1. Die Beschwerdeführer wenden sich gegen ein Urteil des Finanzgerichts Baden-Württemberg vom 11. September 1997, mit dem ihre Klage gegen den Einkommensteuerbescheid 1995 abgewiesen worden ist, sowie gegen den Beschluß des Bundesfinanzhofs vom 6. Juli 1998, mit dem ihre Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision als unbegründet zurückgewiesen worden ist.
Die Beschwerdeführer wurden im Streitjahr 1995 zusammenveranlagt. Sie waren beide berufstätig. Ihre vier Kinder waren zu Beginn des Streitjahres 8, 11, 14 und 16 Jahre alt.
2. Zur Haushaltsführung und Betreuung ihrer Kinder beschäftigten sie eine Haushaltshilfe in einem sozialversicherungspflichtigen Arbeitsverhältnis, für das ihnen im Streitjahr Aufwendungen in Höhe von 15.864 DM entstanden. Diese machten sie erfolglos als Werbungskosten, hilfsweise als außergewöhnliche Belastung geltend. Eine steuerliche Berücksichtigung nach § 10 Abs. 1 Nr. 8 EStG kam nach dem Wortlaut nicht in Betracht, da dieser im Streitjahr für Ehepaare voraussetzte, daß zwei Kinder unter zehn Jahren dem Haushalt angehörten.
3. Die gegen den Einkommensteuerbescheid gerichtete Klage wurde mit Urteil des Finanzgerichts Baden-Württemberg vom 11. September 1997 abgewiesen. Entgegen der Auffassung der Kläger verstießen die gesetzlichen Regelungen der §§ 9, 12 und 33 EStG im Streitfall nicht gegen Grundrechte. So habe das Bundesverfassungsgericht in seinem Nichtannahmebeschluß vom 24. September 1992 (1 BvR 1443/89, NJW 1993, S. 647) erneut seine bereits früher geäußerte Auffassung (unter Hinweis auf Beschluß des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 16. Oktober 1984 – 1 BvR 24/84 –, HFR 1985, S. 238) bestätigt, wonach die einkommensteuerliche Nichtberücksichtigung von Kosten für die Beschäftigung einer Haushaltshilfe (Kinderfrau, Kinderpflegerin) zur Kinderbetreuung bei zusammenveranlagten und beiderseits berufstätigen Ehegatten in der Regel verfassungsrechtlich unbedenklich sei.
Insbesondere könne es keinen Verstoß gegen Art. 3 Abs. 1 GG i.V.m. Art. 6 Abs. 1 GG darstellen, wenn Kosten für Unterhalt und Betreuung von Kindern nur im Rahmen des “Kinderlastenausgleichs” und grundsätzlich nur pauschal – ohne Beachtung der Einzelfälle – berücksichtigt würden.
4. Die gegen die Nichtzulassung der Revision eingelegte Beschwerde wurde mit Beschluß des Bundesfinanzhofs vom 6. Juli 1998 zurückgewiesen. Der Senat halte einstimmig die Revision für unbegründet und eine mündliche Verhandlung nicht für erforderlich. Die Beteiligten seien davon unterrichtet worden und hätten Gelegenheit zur Stellungnahme gehabt.
II.
Die Beschwerdeführer rügen eine Verletzung von Art. 6 Abs. 1 GG.
§ 12 Nr. 1 EStG stelle sich als willkürliche Regelung dar, weil hierdurch der “Betrieb” Familie gegenüber jeder anderen Wirtschaftseinheit ohne ausreichenden sachlichen Grund benachteiligt werde. Dies verstoße insbesondere gegen Art. 6 Abs. 1 GG und spreche nach Auffassung der Beschwerdeführer dem “besonderen Schutz der Familie” Hohn. Deshalb sei die Berücksichtigung von Aufwendungen für eine Haushaltshilfe bei der Besteuerung des Einkommens beider Ehegatten von Verfassungs wegen geboten, wenn die Begründung eines Beschäftigungsverhältnisses mit der Haushaltshilfe zeitlich und sachlich mit der (Wieder-)Aufnahme der Beschäftigung durch den zuvor die Kinder versorgenden und betreuenden Elternteil zusammenfalle und damit deutlich werde, daß die Haushaltshilfe ausschließlich notwendig ist, um die Erwerbstätigkeit eines Elternteils zu ermöglichen. Eine andere Auslegung sei familienfeindlich.
Die Regelung des § 12 Nr. 1 EStG verstoße jedenfalls dann gegen Art. 6 Abs. 1 GG, wenn entsprechende Betreuungsaufwendungen steuerlich unberücksichtigt blieben, obwohl neben einem unter zehnjährigen Kind weitere drei Kinder, die ebenfalls noch der Betreuung und Pflege bedürften, vorhanden seien. Hierbei müsse auch berücksichtigt werden, daß in anderen Rechtsgebieten, insbesondere dem Unterhaltsrecht, diesem Bedarf entsprechend Rechnung getragen werde, der Steuergesetzgeber jedoch eine grundlegend andere Wertung getroffen habe. Dies führe zu einer unerträglichen, sachlich nicht gerechtfertigten Andersbehandlung in einem wichtigen Teil der Rechtsordnung, die mit Art. 3 und Art. 20 GG (Rechtsstaatsgebot) nicht zu vereinbaren sei.
Die in § 10 Abs. 1 Nr. 8 EStG (in der bis zum Jahre 1996 geltenden Fassung) enthaltene Regelung verletze ebenfalls Art. 6 Abs. 1 GG. Insbesondere werde hierdurch der Tatsache, daß auch Kinder, welche das Alter von zehn Jahren überschritten hätten und trotzdem noch erheblichen familiären Arbeits- und Betreuungsaufwand verursachten, nicht ausreichend Rechnung getragen. Dabei werde auch schlichtweg negiert, daß gerade im Falle einer größeren Familie wegen der notwendigerweise umfassenderen “Infrastruktur” ein deutlicherer Arbeits- und auch Finanzaufwand entstehe. Die in § 10 Abs. 1 Nr. 8 EStG vorgenommene Grenzziehung sei daher objektiv willkürlich und verstoße gegen Art. 3 Abs. 1 GG.
Auch der Ausschluß von Aufwendungen für eine Haushaltshilfe von der Abzugsmöglichkeit nach § 33 Abs. 1 EStG sei mit Art. 6 Abs. 1 GG nicht zu vereinbaren, da dadurch ganz speziell die nur in Familien auftretenden besonderen Lasten ohne sachlichen Grund den Betroffenen in vollem Umfang auferlegt würden. Wenigstens eine “Härtefallregelung” über § 33 EStG sei zum Schutz der größeren Familien dringend geboten.
III.
In dem Verfahren hat das Bundesministerium der Finanzen namens der Bundesregierung Stellung genommen.
Entscheidungsgründe
B.
Die Verfassungsbeschwerde hat keine grundsätzliche verfassungsrechtliche Bedeutung (§ 93a Abs. 2 Buchstabe a BVerfGG) und ihre Annahme ist auch nicht zur Durchsetzung der gerügten Grundrechte angezeigt (§ 93a Abs. 2 BVerfGG).
I.
1. Die von ihr zur steuerlichen Berücksichtigung des Kinderbetreuungs- und -erziehungsbedarfs aufgeworfenen Fragen sind durch Beschluß des Zweiten Senats vom 10. November 1998 (BVerfGE 99, 216) geklärt.
a) Der Senat hat in diesem Beschluß § 33c Abs. 1 bis 4 EStG für mit Art. 6 Abs. 1 und Abs. 2 GG nicht vereinbar erklärt, weil diese Regelungen die eheliche Erziehungsgemeinschaft erwerbstätiger Eltern gegenüber anderen Erziehungsgemeinschaften benachteiligen (vgl. BVerfGE 99, 216 ≪235 ff.≫). Er hat weiter festgestellt, daß der Betreuungsbedarf eines Kindes unabhängig von Krankheit, Behinderung oder Erwerbstätigkeit der Eltern besteht und die auf diesem Bedarf beruhende Minderung der steuerlichen Leistungsfähigkeit deswegen bei allen Eltern zu berücksichtigen ist (vgl. BVerfGE 99, 216 ≪240 f.≫).
Der Senat hat mit Beschluß vom 10. November 1998 (BVerfGE 99, 216) auch § 32 Abs. 7 EStG für unvereinbar erklärt mit Art. 6 Abs. 1 und Abs. 2 GG, weil die Regelung die eheliche gegenüber anderen Erziehungsgemeinschaften benachteiligt (vgl. BVerfGE 99, 216 ≪218 ff.≫). Er hat weiter entschieden, das Einkommensteuergesetz vernachlässige die Aufwendungen der Eltern, die den Kindern die persönliche Entfaltung und ihre Entwicklung zur Eigenständigkeit und Eigenverantwortlichkeit ermöglichen (Erziehungsbedarf). Für die Bemessung dieses von allen Eltern zu befriedigenden Erziehungsbedarfs ihrer Kinder gibt der bisherige Haushaltsfreibetrag eine zahlenmäßige Orientierung, die je nach Kinderzahl abzustufen ist (vgl. BVerfGE 99, 216 ≪241 f.≫).
b) Soweit die Beschwerdeführer als eheliche Erziehungsgemeinschaft in den angegriffenen Entscheidungen von der Anwendung der beanstandeten Normen ausgeschlossen worden sind, beruhen diese nicht auf einer nichtigen oder unanwendbaren Rechtsgrundlage und geben keine Veranlassung zur Annahme der Verfassungsbeschwerden nach § 93a Abs. 2b BVerfGG.
Da der Zweite Senat in seiner Entscheidung ausdrücklich die Weitergeltung der als verfassungswidrig erkannten Vorschriften angeordnet hat, bleiben diese die rechtmäßige Grundlage der Entscheidungen. Die Anordnung der Weitergeltung der Vorschriften bedeutet, daß die Fachgerichte diese Vorschriften bis zum Ablauf der entsprechenden Frist anzuwenden und ihren Entscheidungen weiterhin zugrunde zu legen haben. Sie ist notwendig, weil im Falle der Nichtigkeit oder Unanwendbarkeit die verfassungsrechtlich gebotene Berücksichtigung des Betreuungsaufwandes und eines Haushaltsfreibetrages gänzlich entfallen und damit eine Rechtslage geschaffen worden wäre, die mit Art. 6 Abs. 1 und Abs. 2 GG noch weniger vereinbar wäre als die beanstandeten Normen (vgl. BVerfGE 99, 216 ≪244≫). Damit blieb die Begünstigung der Alleinerziehenden i.S.d. § 33c Abs. 2 und § 32 Abs. 7 EStG erhalten. Die Einbeziehung der übrigen Eltern kann dagegen erst durch eine entsprechende Neuregelung des Gesetzgebers, zu der dieser verpflichtet wurde, erreicht werden. Bis zum Ablauf der jeweiligen Frist ist das bisherige Recht als Übergangsrecht hinzunehmen. Die Beschwerdeführer werden daher zur Zeit durch die angegriffenen Entscheidungen, soweit diese auf dem Ausschluß von den Begünstigungen des § 33c und § 32 Abs. 7 EStG beruhen, nicht i.S.d. § 93a Abs. 2b BVerfGG beschwert.
2. Soweit sich die Beschwerdeführer gegen die Anwendung des § 10 Abs. 1 Nr. 8 EStG in der bis 1996 geltenden Fassung wenden, liegen die Annahmevoraussetzungen ebenfalls nicht vor.
a) Eine grundsätzliche Bedeutung ist nicht gegeben. Die gerügte Verletzung des Art. 3 und des Art. 6 GG dadurch, daß Eheleute mit nur einem Kind den steuerlichen Abzugsbetrag nicht in Anspruch nehmen konnten, ist seit dem 28. Dezember 1996 weggefallen. Ein sozialversicherungspflichtiges Beschäftigungsverhältnis kann nun unabhängig von der Anzahl der Kinder steuerlich geltend gemacht werden. Für nicht mehr geltendes Recht besteht aber in der Regel kein über den Einzelfall hinausgreifendes Interesse an der Klärung der Verfassungsmäßigkeit nach Außerkrafttreten der entsprechenden Norm (vgl. BVerfGE 91, 186 ≪200≫).
b) Eine besondere Beschwer ist insoweit ebenfalls nicht gegeben. Die Regelung des § 10 Abs. 1 Nr. 8 EStG konnte die verfassungswidrige Vernachlässigung des Kinderbetreuungsbedarfs nicht allgemein kompensieren (vgl. BVerfGE 99, 216 ≪238≫), weil sie nicht allen Eltern mit Kindern unter 16 Jahren zugute kam. Der Ausschluß von dieser Regelung stellt für sich keinen schweren Nachteil i.S.d. § 93a Abs. 2b BVerfGG dar.
II.
Die Beschwerdeführer haben keinen Anspruch darauf, mit den Beschwerdeführern gleichgestellt zu werden, die an den mit dem Beschluß vom 10. November 1998 entschiedenen Verfassungsbeschwerde-Verfahren beteiligt waren.
1. Solange eine verfassungsrechtliche Frage von grundsätzlicher Bedeutung beim Bundesverfassungsgericht anhängig ist, besteht bereits ein Anlaß zu ihrer Klärung. Weiteren Verfassungsbeschwerden, die diese Fragen erneut aufwerfen, kommt daher weder für eine verfassungsgerichtliche Grundsatzentscheidung noch hinsichtlich der Behandlung anhängiger Einsprüche oder Klagen eine entsprechende “Anstoßwirkung” zu.
2. Zwar haben die Beschwerdeführer bereits vor Erlaß der Entscheidung des Senats vom 10. November 1998 Verfassungsbeschwerden eingelegt, denen damals ebenso wie die dem entschiedenen Verfahren zugrundeliegenden Verfassungsbeschwerden grundsätzliche Bedeutung zukam. Ihre vor dem Beginn der Beratungen zur maßgeblichen Entscheidung eingelegten Verfassungsbeschwerden waren damit grundsätzlich ebenfalls geeignet, eine Klärung der verfassungsrechtlichen Fragen herbeizuführen; sie entfalten jedoch keine “Anstoßwirkung” mehr.
3.a) Der Senat hat dementsprechend in seiner Entscheidung vom 10. November 1998 eine Ausnahme von der angeordneten Fortgeltung der Regelungen, soweit sie für verfassungswidrig erkannt wurden, ausschließlich für die dieser Entscheidung zugrundeliegenden Fälle angeregt. Im übrigen ist es Sache des Gesetzgebers zu entscheiden, ob die Neuregelung auch die Beschwerdeführer in den vorliegenden Verfahren begünstigen wird (vgl. BVerfGE 87, 153 ≪180≫). Eine entsprechende Regelung liegt derzeit noch nicht vor.
b) Das deutsche Verfassungsprozeßrecht enthält derzeit keine Regelung, die eine Begünstigung von Anlaßfällen unabhängig von einem entsprechenden Ausspruch in der Grundsatzentscheidung allgemein anordnet, so daß es auch insoweit zur Zeit an einer rechtlichen Grundlage fehlt (zum österreichischen Recht vgl. H.…G.… Ruppe, Der Anlaßfall, in: Holoubek/Lang ≪Hrsg.≫, Das verfassungsgerichtliche Verfahren in Steuersachen, 1998, S. 175 ≪182 f.≫).
Diese Entscheidung ist unanfechtbar.
Unterschriften
Limbach, Kirchhof, Jentsch
Fundstellen
HFR 2000, 219 |
NJW 2000, 723 |
FamRZ 2000, 416 |