Entscheidungsstichwort (Thema)
Anwendung der Bananenmarktorganisation der EG und des Systems der Einfuhrlizenzen
Leitsatz (redaktionell)
1. Die Zurückweisung des Antrags eines vom Konkurs bedrohten deutschen Obstimporteurs im Wege einstweiligen Rechtsschutzes gem. § 123 VwGO, bis zur Entscheidung der Hauptsache durch den EuGH Lizenzen für die Einfuhr von Bananen zu erteilen, verletzt Art. 19 Abs. 4 Satz 1 i. V. mit Art. 14 Abs. 1 GG.
2. In der Entscheidung über eine einstweilige Anordnung ist vom Gericht zu prüfen, selbst wenn es im Ergebnis von der Anwendbarkeit der Bananenmarktorganisation als solcher ausgeht, ob das Untätigbleiben der Bundesrepublik Deutschland trotz des auch in der Bananenmarktorganisation vorgesehenen Instrumentariums für Härtefälle dem – auch gemeinschaftsrechtlich – gewährten Grundrechtsschutz zuwiderläuft.
Normenkette
GG Art. 14 Abs. 1, Art. 19 Abs. 4 S. 1; VwGO § 123; EWGV 404/93 Art. 30, 16 Abs. 3; EGV Art. 186
Verfahrensgang
Hessischer VGH (Beschluss vom 23.12.1994; Aktenzeichen 8 TG 3430/94) |
Tatbestand
A.
Die Verfassungsbeschwerden betreffen die Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes durch deutsche Gerichte bei Anwendung der Bananenmarktorganisation der Europäischen Gemeinschaft und des damit verbundenen Systems von Einfuhrlizenzen.
I.
1. Die Beschwerdeführerin zu 1. ist ein in Hamburg ansässiges Obstimport-Unternehmen. Die Beschwerdeführer zu 2. sind Kommanditisten dieses Unternehmens.
Vor Inkrafttreten der Verordnung (EWG) Nr. 404/93 des Rates vom 13. Februar 1993 über die gemeinsame Marktorganisation für Bananen hat die Beschwerdeführerin zu 1. jährlich größere Mengen von Bananen vermarktet, die aus Drittländern importiert wurden. Nach Inkrafttreten der Bananenmarktorganisation wurde ihr für das Jahr 1994 ein Kontingent in Höhe von lediglich knapp 150 Tonnen zugeteilt. Das entspricht weniger als einem Hundertstel ihrer durchschnittlichen Einfuhrmenge der letzten sechs Jahre; dabei waren die Einfuhren des Jahres 1993 überdurchschnittlich hoch. Kurz vor Inkrafttreten der Bananenmarktorganisation hatte die Beschwerdeführerin zu 1. längerfristige Verträge über die Lieferung größerer Mengen Bananen aus Drittländern abgeschlossen. Die gegenseitigen Verpflichtungen aus diesen Verträgen gelten bis mindestens Mitte 1996.
Nach Einlegung des Widerspruchs beantragte die Beschwerdeführerin zu 1. im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes die Zuteilung von Einfuhrlizenzen für Drittlandstaaten zum Zollsatz von 100 Ecu/Tonne in Höhe von 16.667,10 Tonnen für die Jahre 1994 und 1995. Dabei machte sie geltend, daß sie durch besondere Umstände – den Vertragsbruch einer kolumbianischen Firma – in den maßgeblichen Vergleichsjahren 1989 bis 1991 die vereinbarten Waren nicht habe einführen können und daß nur deshalb die für die Zuteilung der Lizenzen maßgebliche Vergleichsmenge niedriger ausgefallen sei als es der üblichen Einfuhrmenge entspreche. Ihr drohe bei dem bisher gewährten Kontingent unmittelbar der Konkurs.
2. Mit Beschluß vom 23. Dezember 1994 wies der Hessische Verwaltungsgerichtshof die Beschwerde gegen einen diesen Antrag ablehnenden Beschluß des Verwaltungsgerichts zurück. Zwar sei grundsätzlich ein Anspruch der Beschwerdeführerin zu 1. auf einstweiligen Rechtsschutz auch gegen Verordnungen der Europäischen Gemeinschaft in entsprechender Anwendung des Art. 186 EGV gegeben, um den Erfordernissen des Art. 19 Abs. 4 GG zu genügen. Eine einstweilige Anordnung könne jedoch nicht ergehen, weil die Beschwerdeführerin zu 1. einen ihr zustehenden Anordnungsanspruch nicht hinreichend glaubhaft gemacht habe.
Zur Begründung führt der Verwaltungsgerichtshof zunächst aus, daß die vom Europäischen Gerichtshof für die Aussetzung der Vollziehung eines auf einer Gemeinschaftsverordnung beruhenden Verwaltungsaktes aufgestellten Voraussetzungen, die allenfalls entsprechend zur Anwendung kommen könnten, nicht vorlägen. Sodann stellt der Verwaltungsgerichtshof fest, daß die Eilentscheidung für die Beschwerdeführerin zu 1. dringlich sein möge. Ihr Interesse an einer baldigen Entscheidung müsse nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs jedoch gegen das Interesse der Gemeinschaft am Vollzug der Verordnung abgewogen werden. Bei dieser Abwägung falle ins Gewicht, daß die von der Beschwerdeführerin zu 1. begehrte vorläufige Maßnahme praktisch das Ergebnis des Hauptsacheverfahrens vorwegnehmen würde; die Auswirkungen einer solchen Entscheidung könnten nicht mehr beseitigt werden, wenn die Beschwerdeführerin zu 1. im Hauptsacheverfahren unterläge.
Eine andere Entscheidung käme nur in Betracht, wenn das Gericht überzeugt wäre, daß der Europäische Gerichtshof die Unwirksamkeit der angegriffenen Verordnung feststellen werde. Dies sei jedoch nicht der Fall. Der Europäische Gerichtshof habe durch sein Urteil vom 5. Oktober 1994 die Klage der Bundesrepublik Deutschland abgewiesen und es abgelehnt, Teile der Verordnung (EWG) Nr. 404/93 für nichtig zu erklären. Danach spreche trotz des noch anhängigen Verfahrens über die Gültigkeit der Verordnung (EWG) Nr. 404/93 aufgrund der aufrechterhaltenen Vorlage des Verwaltungsgerichts Frankfurt (Beschluß vom 1. Dezember 1993 ≪Az: 1 E 2949/93(2)≫) mehr gegen als für eine für die Beschwerdeführerin zu 1. günstigere Entscheidung.
3. Die Beschwerdeführerin zu 1. und die Beschwerdeführer zu 2. haben gegen den Beschluß des Hessischen Verwaltungsgerichtshofs Verfassungsbeschwerde erhoben und den Erlaß einer einstweiligen Anordnung beantragt.
Sie rügen eine Verletzung ihrer Rechte aus Art. 12 Abs. 1, 14, 19 Abs. 4, 38 Abs. 1 i.V.m. Art. 20 Abs. 2 GG.
Die Anknüpfung der Güterabwägung an den Ausgang des Hauptsacheverfahrens sei unzutreffend. Angesichts des drohenden Konkurses stelle die Reduzierung der Lizenzmengen für Bananen seit dem zweiten Halbjahr 1993 auf Bruchteile der in der Vergangenheit vermarkteten und für die Zukunft fest kontrahierten Mengen an Bananen eine entschädigungslose Enteignung und einen unverhältnismäßigen, nicht tragbaren Eingriff in die Berufsausübungsfreiheit der Beschwerdeführerin zu 1. dar, der dieses Recht in seinem Wesensgehalt antaste. Die Marktorganisation hätte mindestens eine Übergangs- und Härteregelung vorsehen müssen. Tatsächlich werde eine solche Härteregelung praktiziert: Die Kommission habe britischen und französischen Händlern, die vom karibischen Wirbelsturm „Debbie” betroffen waren, ein Sonderkontingent für Bananen außerhalb des von der Verordnung (EWG) Nr. 404/93 vorgesehenen Verteilungsschlüssels bereitgestellt.
Die Lage habe sich für die Beschwerdeführerin zu 1. auch deshalb weiter zugespitzt, weil ihr durch den Beitritt Österreichs und Schwedens zur Europäischen Gemeinschaft ab 1995 weitere Märkte verschlossen seien, auf die sie bisher – zumindest teilweise – habe ausweichen können.
Bemühungen der Bundesrepublik Deutschland, für deutsche Importe Härteregelungen zu erreichen, seien von der Kommission nicht zur Kenntnis genommen oder ohne nähere Begründung zurückgewiesen worden.
II.
Dem Hessischen Justizministerium, dem Bundesamt für Ernährung und Forstwirtschaft und dem Bundesministerium für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten wurde Gelegenheit zur Stellungnahme gegeben.
Entscheidungsgründe
B.
I.
Die Verfassungsbeschwerde der Beschwerdeführer zu 2. wird nicht zur Entscheidung angenommen, weil sie schon mangels vorheriger Beschreitung des Rechtswegs unzulässig ist (§ 93b i.V.m. §§ 93a Abs. 2 Buchst. b, 90 Abs. 2 Satz 1 BVerfGG).
II.
Soweit sich die Verfassungsbeschwerde der Beschwerdeführerin zu 1. gegen den Beschluß des Hessischen Verwaltungsgerichtshofs richtet, nimmt die Kammer sie zur Entscheidung an und gibt ihr statt, weil dies zur Durchsetzung der in § 90 Abs. 1 BVerfGG genannten Rechte angezeigt ist (§ 93a Abs. 2 Buchst. b BVerfGG).
Die Verfassungsbeschwerde ist insoweit zulässig und im Sinne des § 93c Abs. 1 Satz 1 BVerfGG offensichtlich begründet. Der Beschluß des Hessischen Verwaltungsgerichtshofs vom 23. Dezember 1994 verletzt die Beschwerdeführerin zu 1. in ihren Grundrechten aus Art. 19 Abs. 4 Satz 1 i.V.m. Art. 14 Abs. 1 GG.
1. Das Verfahrensgrundrecht des Art. 19 Abs. 4 GG garantiert nicht nur das formelle Recht und die theoretische Möglichkeit, die Gerichte anzurufen, sondern auch die Effektivität des Rechtsschutzes; der Bürger hat einen Anspruch auf einen tatsächlich wirksamen gerichtlichen Schutz seiner Rechte (vgl. BVerfGE 35, 263 ≪274 ff.≫; st. Rspr.).
Art. 19 Abs. 4 GG verlangt nicht nur bei Anfechtungs-, sondern auch bei Vornahmesachen jedenfalls dann vorläufigen Rechtsschutz, wenn ohne ihn schwere und unzumutbare, anders nicht abwendbare Nachteile entstünden, die eine Entscheidung in der Hauptsache nachträglich nicht mehr beseitigen könnte. Deswegen muß nicht nur der Gesetzgeber – wie für die Verwaltungsgerichtsbarkeit mit § 123 VwGO geschehen – eine Regelung vorsehen, aufgrund deren die Gerichte vorläufigen Rechtsschutz gewähren können. Vielmehr sind auch die diese Vorschrift anwendenden Gerichte gehalten, bei ihrer Auslegung und Anwendung der besonderen Bedeutung der jeweils betroffenen Grundrechte und den Erfordernissen eines effektiven Rechtsschutzes Rechnung zu tragen (vgl. BVerfGE 79, 69 ≪74≫).
Droht danach dem Antragsteller bei Versagung des einstweiligen Rechtsschutzes eine erhebliche Verletzung in seinen Grundrechten, die durch eine der Klage stattgebende Entscheidung in der Hauptsache nicht mehr beseitigt werden kann, so ist – erforderlichenfalls unter eingehender tatsächlicher und rechtlicher Prüfung des im Hauptsacheverfahren geltend gemachten Anspruchs – einstweiliger Rechtsschutz zu gewähren, es sei denn, daß ausnahmsweise überwiegende, besonders gewichtige Gründe entgegenstehen (vgl. BVerfG, a.a.O.).
2. Die angegriffene Entscheidung des Hessischen Verwaltungsgerichtshofs entspricht den dargelegten verfassungsrechtlichen Anforderungen nicht.
Der Verwaltungsgerichtshof will im Ansatz vorläufigen Rechtsschutz auch gegen die Durchsetzung einer Verordnung der Europäischen Gemeinschaft gewähren, der in dem anhängigen Verfahren nach Art. 177 EGV bei dem Europäischen Gerichtshof von der Beschwerdeführerin zu 1. nicht zu erreichen wäre (Art. 186 EGV i.V.m. Art. 83 § 1 Abs. 2 der Verfahrensordnung des Europäischen Gerichtshofs); er genügt damit grundsätzlich den Erfordernissen des Art. 19 Abs. 4 GG. Der Verwaltungsgerichtshof stützt seine ablehnende Entscheidung im konkreten Fall aber – mit Hinweis auf die Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs vom 5. Oktober 1994 – Rs. C-280/93 (Bundesrepublik Deutschland/Rat) – darauf, daß insbesondere angesichts ungewisser Erfolgsaussicht des anhängigen Vorlageverfahrens vor dem Europäischen Gerichtshof in unzulässiger Weise die Hauptsache vorweggenommen werde. Dabei würdigt das Gericht nicht, daß die Rechte der Beschwerdeführerin zu 1. bei Versagung des vorläufigen Rechtsschutzes endgültig vereitelt würden, die Bananenmarktorganisation jedoch für eine Härteregelung offen ist.
Der Hessische Verwaltungsgerichtshof übersieht, daß in der Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs vom 5. Oktober 1994 (Rs. C-280/93) lediglich die Bananenmarktorganisation als solche geprüft, nicht aber ihre Auswirkungen in einem konkreten Härtefall gewürdigt worden sind. Demgegenüber hat der Europäische Gerichtshof mit Beschluß vom 29. Juni 1993 (Rs. C- 280 R ≪Bundesrepublik Deutschland/Rat≫; EuZW 1993, S. 483 ≪485 f.≫) entschieden, daß die Kommission zur Anpassung des Zollkontingents verpflichtet ist, wenn sich dies im Verlauf des Wirtschaftsjahres als notwendig erweist, um das Auftreten ungewöhnlicher Umstände zu berücksichtigen, die sich insbesondere auf die Einfuhrbedingungen auswirken, und daß die Bundesrepublik Deutschland jederzeit das Verfahren des Art. 16 Abs. 3 oder das des Art. 30 der Verordnung in Gang setzen könnte. Die Verordnung (EWG) Nr. 404/93 ist also – ungeachtet der Frage ihrer Gültigkeit – inhaltlich so offen, daß besondere Härten in der Anwendung aufgefangen werden können.
Nachdem der Verwaltungsgerichtshof offensichtlich davon ausgeht, daß der Beschwerdeführerin zu 1. bei Anwendung eines nicht angepaßten Zollkontingents unmittelbar der Konkurs droht, hätte er im Rahmen seiner Abwägungen auch prüfen müssen, ob durch diesen Konkurs das Grundrecht der Beschwerdeführerin zu 1. aus Art. 14 Abs. 1 GG (Schutz aller vermögenswerten Rechte, vgl. BVerfGE 83, 201 ≪208 f.≫) irreparabel verletzt wird und deshalb für die Dauer des Hauptsacheverfahrens eine vorläufige Härteregelung getroffen werden mußte. Die außergewöhnlichen, im Regelkontingent nicht berücksichtigten Umstände könnten der Kommission – auf Antrag der Bundesregierung – Veranlassung geben, im Wege einer Härtefallregelung gemäß Art. 16 Abs. 3 oder Art. 30 Verordnung (EWG) Nr. 404/93 tätig zu werden. Dies gilt umso mehr, als in einem anderen Härtefall bereits Sonderkontingente bereitgestellt worden sind.
In der Entscheidung über eine einstweilige Anordnung hätte sich der Verwaltungsgerichtshof damit, selbst wenn er im Ergebnis von der Anwendbarkeit der Bananenmarktorganisation als solcher ausgeht, mit der Frage auseinandersetzen müssen, ob das Untätigbleiben der Bundesrepublik Deutschland trotz des auch in der Bananenmarktorganisation vorgesehenen Instrumentariums für Härtefälle dem – auch gemeinschaftsrechtlich – gewährten Grundrechtsschutz zuwiderläuft.
III.
Da somit eine erneute verfassungsmäßige Rechtsanwendung dem Antrag auf einstweilige Anordnung zum Erfolg verhelfen könnte, ist der Beschluß vom 23. Dezember 1994 aufzuheben. Die Sache ist an den Hessischen Verwaltungsgerichtshof zurückzuverweisen (vgl. §§ 93c Abs. 2, 95 Abs. 2 BVerfGG).
Durch die Entscheidung in der Hauptsache erledigt sich der Antrag auf Erlaß einer einstweiligen Anordnung (vgl. BVerfGE 7, 99 ≪109≫).
Die Entscheidung über die Auslagenerstattung beruht auf § 34 a Abs. 2 und 3 BVerfGG.
Diese Entscheidung ist unanfechtbar.
Fundstellen
NVwZ 1995, 576 |
ZIP 1995, 411 |