Entscheidungsstichwort (Thema)
Rechtliches Gehör. Wiedereinsetzung in den vorigen Stand bei verzögerter Briefbeförderung durch die Deutsche Bundespost
Leitsatz (amtlich)
Der Grundsatz, daß im Rahmen der Wiedereinsetzung in den vorigen Stand dem Bürger Verzögerungen der Briefbeförderung und Briefzustellung durch die Deutsche Bundespost nicht als Verschulden zugerechnet werden dürfen (vgl. BVerfGE 44, 302 ff.), gilt auch für den Rechtsmittelzug im Zivilprozeß.
Normenkette
GG Art. 19 Abs. 4, Art. 103 Abs. 1, Art. 20 Abs. 3; ZPO § 233
Verfahrensgang
LG Duisburg (Beschluss vom 19.05.1978; Aktenzeichen 2 S 14/78) |
LG Duisburg (Beschluss vom 03.05.1978; Aktenzeichen 5 S 27/78) |
Gründe
A.
Beide Verfassungsbeschwerden betreffen die Frage, ob den Beschwerdeführern die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand wegen der Versäumung einer Frist zur Berufungsbegründung in einem Zivilprozeß in verfassungswidriger Weise versagt worden ist.
I.
1. Die beiden Beschwerdeführer, die durch denselben Prozeßbevollmächtigten vertreten waren, wurden in zwei Verfahren vom Amtsgericht in Wesel zur Zahlung verurteilt. In beiden Fällen legte ihr Prozeßbevollmächtigter rechtzeitig beim Landgericht in Duisburg Berufung ein. Dort waren verschiedene Kammern zuständig.
Im Ausgangsverfahren zu 1 BvR 806/78 lief die Frist zur Begründung der Berufung am 13. Februar 1978 ab. Der Prozeßbevollmächtigte gab die Berufungsbegründung am Donnerstag, dem 9. Februar 1978, zur Post in W.. Sie ging erst am Dienstag, dem 14. Februar 1978, beim Landgericht ein.
Im Ausgangsverfahren zu 1 BvR 761/78 lief die Frist zur Begründung der Berufung am 8. März 1978 ab. Der Prozeßbevollmächtigte gab die Berufungsbegründung am Freitag, dem 3. März 1978, zur Post in Wesel. Sie ging am Donnerstag, dem 9. März 1978, beim Landgericht ein.
In beiden Fällen stellte der Prozeßbevollmächtigte der Beschwerdeführer, nachdem er den verspäteten Eingang seiner Berufungsbegründungen erfahren hatte, den Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand wegen der Überschreitung der Fristen. In einem in beiden Verfahren zur Akte gereichten Schriftsatz vom 7. April 1978 erklärte er:
Es ist Anfang des Jahres eine große organisatorische Umstellung des Hauptpostamtes Wesel erfolgt, in der erklärten Absicht, den Postablauf sicherer zu machen. In der Folgezeit sind in Wesel, insbesondere in der lokalen Zustellung und im Postfachdienst, ganz erhebliche Schwierigkeiten aufgetreten. Wir haben die begründete Vermutung, daß die bei uns aufgetretenen Schwierigkeiten damit in einem ursächlichen Zusammenhang stehen.
Beide Kammern des Landgerichts Duisburg wiesen die Anträge auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand ab. Sie gehen übereinstimmend davon aus, daß Verzögerungen bei der Postbeförderung den Parteien grundsätzlich nicht zuzurechnen seien. Anders sei es aber, wenn es Hinweise auf Verzögerungen gebe. In diesen Fällen hätten die Parteien das von vornherein in ihre Berechnungen einzubeziehen. Ein solcher Fall sei gegeben, weil der Prozeßbevollmächtigte selber auf die organisatorische Umstellung beim Hauptpostamt Wesel Anfang des Jahres 1978 hingewiesen habe. Unter solchen Umständen habe er nicht mit dem rechtzeitigen Eingang seiner Berufungsbegründungen rechnen dürfen.
2. Mit der Verfassungsbeschwerde rügen beide Beschwerdeführer die Verletzung des Art. 19 Abs. 4 und des Art. 103 Abs. 1 GG durch die angefochtenen Beschlüsse. Die Beschlüsse schlössen in einer aus Sachgründen nicht mehr zu rechtfertigenden Weise ihren Zugang zur Berufungsinstanz aus.
II.
Die Verfassungsbeschwerden sind begründet.
Das Bundesverfassungsgericht hat in Fällen, die den Rechtsweg gegen Akte der öffentlichen Gewalt betrafen, auf der Grundlage des Art. 19 Abs. 4 und des Art. 103 Abs. 1 GG den Grundsatz entwickelt, daß im Rahmen der Wiedereinsetzung in den vorigen Stand dem Bürger Verzögerungen der Briefbeförderung und Briefzustellung durch die Deutsche Bundespost nicht als Verschulden angerechnet werden dürfen; dies gelte sowohl für Fälle des ersten Zugangs zum Gericht wie für Fälle des Zugangs zu einer weiteren, von der Prozeßordnung vorgesehenen Instanz (BVerfGE 44, 302 [306]; 41, 23 [26 m.w.N.]). Dieser Grundsatz läßt sich nicht auf Verfahren beschränken, an deren Beginn ein Akt der öffentlichen Gewalt steht; er enthält ein Gebot, dem jedes rechtsstaatliche Gerichtsverfahren genügen muß. Das gilt auch für den Rechtsmittelzug im Zivilprozeß.
Die Kammern des Landgerichts Duisburg haben die Tragweite dieses Gebots bei der Auslegung des Begriffs des „Verschuldens” in § 233 ZPO verkannt. Grundsätzlich darf einem Bürger, der ein Rechtsmittel befristet begründen muß, nicht unter Hinweis auf eine Verzögerung der Briefbeförderung durch die Deutsche Bundespost die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand versagt werden.
Zwar mögen Fälle denkbar sein, in denen es verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden wäre, wenn ein Gericht bei verspäteter Postzustellung ein Verschulden des Bürgers deswegen annimmt, weil er die Verzögerung habe voraussehen können. Die angefochtenen Beschlüsse lassen aber nicht erkennen, daß hier ein solcher Fall gegeben ist. Der Prozeßbevollmächtigte der Beschwerdeführer hat lediglich nachträglich in dem offenbaren Bemühen, Gründe für die auffallend verzögerte Postzustellung zu finden, die Vermutung geäußert, die Verzögerung könne mit der organisatorischen Umstellung auf einem Postamt zusammenhängen. Die angefochtenen Beschlüsse lassen jedoch offen, ob die auffallende Verzögerung der Postzustellung tatsächlich auf diesem Umstand beruht. Sie lassen auch nicht erkennen, ob sie davon ausgehen, daß die Beschwerdeführer oder ihr Prozeßbevollmächtigter überhaupt bei Absendung der Berufungsbegründung von dieser Umstellung Kenntnis hatten oder zumindest Kenntnis haben konnten.
Vor allem aber ist zu beanstanden, daß beide Zivilkammern ein Verschulden nach § 233 ZPO bejahen, ohne zu berücksichtigen, daß beide Berufungsbegründungen so rechtzeitig vor Ablauf der Frist zur Post gegeben wurden, daß sie selbst bei nicht unerheblicher Verzögerung des Postlaufes fristgerecht eingetroffen wären.
Die Entscheidung über die Erstattung der Auslagen beruht auf § 34 Abs. 4 BVerfGG.
Fundstellen