Dipl.-Finanzwirt Werner Becker
Leitsatz
Nach § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AO ist ein Steuerbescheid zu erlassen, aufzuheben oder zu ändern, soweit ein Ereignis eintritt, das steuerliche Wirkung für die Vergangenheit hat (rückwirkendes Ereignis).
Sachverhalt
Die Klägerinnen lebten seit dem 5.8.2006 in einer eingetragenen Lebenspartnerschaft. Am 8.5.2020 gaben sie eine Erklärung zur Überführung der Lebenspartnerschaft in eine Ehe ab. Die bisher getrennt veranlagten Klägerinnen beantragten am 14.7.2020 die Zusammenveranlagung für die Streitjahre 2006-2009.
Das Finanzamt lehnte diesen Antrag ab. Den Einspruch wies das Finanzamt als unbegründet zurück. Nach bundeseinheitlich abgestimmter Verwaltungsauffassung sei in Fällen der Umwandlung einer Lebenspartnerschaft in eine Ehe eine rückwirkende Anwendung des Splittingtarifs in bestandskräftig veranlagten Veranlagungszeiträumen ausgeschlossen, da es sich nicht um ein Ereignis mit steuerlicher Wirkung im Sinne von § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AO handele.
Entscheidung
Das FG hat den Klägerinnen Recht gegeben und das Finanzamt verpflichtet, in den Jahren 2006-2009 eine Zusammenveranlagung durchzuführen.
Die Vorschrift des § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AO regele den Fall, dass sich der richtig ermittelte und steuerrechtlich beurteilte Sachverhalt durch eine später eingetretene tatsächliche Entwicklung verändere und dieser Entwicklung nach den einschlägigen steuerrechtlichen Vorschriften Rechtserheblichkeit für den bereits erlassenen Steuerbescheid zuzumessen sei.
Es komme nicht entscheidend darauf an, welche Gründe rechtlicher oder tatsächlicher Art zur Sachverhaltsänderung geführt hätten. Ob einer nachträglichen Änderung des Sachverhalts rückwirkende steuerliche Bedeutung zukomme, bestimme sich allein nach dem jeweils einschlägigen materiellen Recht.
Nach dieser Maßgabe habe das FG Hamburg in seiner Entscheidung FG Hamburg, Urteil v. 31.7.2018, 1 K 92/18, EFG 2018 S. 1518, die Auffassung vertreten, dass in der Einführung von § 20a Abs. 5 LPartG bzw. Art. 3 Abs. 2 EheöffnungsG ein rückwirkendes Ereignis liege. Der Senat schließe sich insoweit den rechtlichen Ausführungen des FG Hamburg an. Erst mit der Möglichkeit die Lebenspartnerschaft in eine Ehe umzuwandeln, hätten die Klägerinnen ihr Wahlrecht nach § 26 EStG ausüben können.
Hinweis
Art. 97 § 9 Abs. 5 EGAO sah in der Vergangenheit vor, dass bei Umwandlung einer Lebenspartnerschaft bis zum 31.12.2019 gemäß § 20a LPartG in eine Ehe die Vorschriften des § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AO und § 175 Abs. 1 Satz 2 AO sowie § 233a Abs. 2a AO entsprechend anzuwenden seien, soweit die Ehegatten bis zum 31.12.2020 den Erlass, die Aufhebung oder Änderung eines Steuerbescheids zur nachträglichen Berücksichtigung an eine Ehe anknüpfender und bislang nicht berücksichtigter Rechtsfolgen beantragten. Diese gesetzliche Regelung ging auf die Anregung des Finanzausschusses des Bundestags zu der steuerrechtlich umstrittenen Frage, ob die Umwandlung der Lebenspartnerschaft in eine Ehe ein rückwirkendes Ereignis darstellt oder nicht, zurück. Mit der Regelung sollte es dem betroffenen Personenkreis innerhalb einer gesetzlich bestimmten Frist ermöglicht werden, die Anpassung von Steuerbescheiden ungeachtet zwischenzeitlich eingetretener Bestandskraft und Festsetzungsverjährung herbeizuführen. Die im Gesetz bestimmten Fristen seien ausreichend bemessen und sollten nach ihrem Ablauf für Rechtsfrieden sorgen.
Inwieweit bei dem hier zu entscheidenden Sachverhalt eine Störung des Rechtsfriedens eintreten könne, erschloss sich dem Sächsischen FG nicht. Für die Ungleichbehandlung mit Lebenspartnern, die rechtzeitig (bis zum 31.12.2019) ihre Lebenspartnerschaft in eine Ehe umgewandelt hätten, gebe es nach Auffassung des FG keine ersichtlichen Gründe.
Da das Finanzamt die vom FG zugelassene Revision eingelegt hat, Az beim BFH III R 18/23, bleibt die höchstrichterliche Entscheidung zu dieser Problematik abzuwarten.
Link zur Entscheidung
Sächsisches FG, Urteil v. 13.06.2023, 2 K 209/23