Leitsatz
Das BMF wird gem. § 122 Abs. 2 Satz 3 FGO aufgefordert, dem Revisionsverfahren III R 67/98 beizutreten, um zur Verfassungsmäßigkeit der Kindergeldregelung für Ausländer und zu der geplanten Neuregelung Stellung zu nehmen.
Normenkette
§ 62 Abs. 2 Satz 1 EStG
Sachverhalt
Die Klägerin ist polnische Staatsangehörige und hat zwei in Ausbildung befindliche Kinder. Sie besaß zunächst eine be?fris?tete Aufenthaltserlaubnis und später eine be?fris?tete (verlängerte) Aufenthaltsbefugnis. Die Familienkasse lehnte den Antrag auf Gewährung von Kindergeld ab 1996 mit der Begründung ab, die Klägerin sei nicht im Besitz einer Aufenthaltserlaubnis oder einer Aufenthaltsberechtigung.
Die Klage wurde abgewiesen. Dagegen legte die Klägerin Revision ein, die noch anhängig ist.
Entscheidung
Der BFH forderte das BMF auf, dem Revisionsverfahren beizutreten und zu folgenden Fragen Stellung zu nehmen:
1. Teilt das BMF die Auffassung des Senats, dass die Gründe für die Verfassungswidrigkeit des § 1 Abs. 3 BKGG i.d.F. des 1. SKWPG ebenso für den wortgleichen § 62 Abs. 2 Satz 1 EStG i.d.F. des JStG 1996 vom 11.10.1995 (BGBl I 1995, 1250) gelten?
2. In welchem Stadium befindet sich das angekündigte Gesetzgebungsverfahren zur Neuregelung des § 62 Abs. 2 Satz 1 EStG und wann ist mit dem In-Kraft-Treten der Neuregelung zu rechnen?
3. Unter welchen Voraussetzungen haben legal in der Bundesrepublik lebende Ausländer nach der geplanten Neuregelung Anspruch auf Kindergeld?
4. Soll die Neuregelung für alle noch offenen Fälle gelten?
5. Könnte der Klägerin, die im Streitjahr 1996 im Besitz einer mehrfach verlängerten Aufenthaltsbefugnis war, nach der geplanten Neuregelung Kindergeld für die Vergangenheit zustehen?
6. Ist das BMF, falls sich die weiteren beim Senat anhängigen 22 Revisionen durch die Neuregelung nicht erledigen werden, an einem Beitritt interessiert?
Hinweis
Nach § 1 Abs. 3 BKKG 1991–1993 wurde an Ausländer, die sich ohne Aufenthaltsgenehmigung im Inland aufhielten, nur dann Kindergeld gezahlt, wenn sie auf unbestimmte Zeit nicht abgeschoben werden konnten, frühestens jedoch für die Zeit nach einem gestatteten oder geduldeten ununterbrochenen Aufenthalt von einem Jahr.
Nach § 1 Abs. 3 BKKG 1994–1995 waren nur Ausländer im Besitz einer Aufenthaltsberechtigung oder Aufenthaltserlaubnis anspruchsberechtigt. Diese Regelung galt nach einer nur sprachlichen, nicht sachlichen Änderung bis 2004 und entsprach der gleich lautenden Regelung in § 62 Abs. 2 EStG 1996–2005.
Seit 2005 ist eine Niederlassungserlaubnis oder eine besondere Aufenthaltserlaubnis erforderlich (§ 1 Abs. 3 Satz 1 BKKG, gleich lautend mit § 62 Abs. 2 Satz 1 EStG jeweils i.d.F. durch das Zuwanderungsgesetz vom 30.7.2004).
Inzwischen hat das BVerfG zu § 1 Abs. 3 1994 – 1995 entschieden, dass die Regelung gegen den Gleichheitssatz verstößt, soweit Ausländer nur Anspruch auf Kindergeld haben, wenn sie im Besitz einer Aufenthaltsberechtigung oder einer Aufenthaltserlaubnis sind. Das BVerfG erklärte die Vorschrift für unvereinbar mit dem GG und forderte den Gesetzgeber auf, bis zum 31.12.2005 eine neue Regelung zu treffen. Trifft der Gesetzgeber für noch nicht rechts- oder bestandskräftig abgeschlossene Verfahren bis zum 1.1.2006 keine neue Regelung, ist auf diese Fälle das bis 1993 geltende Recht anzuwenden (BVerfG, Beschluss vom 6.7.2004, 1 BvL 4/97 u.a., BVerfGE 111, 160). Da der ab 1996 geltende § 62 Abs. 2 Satz 1 EStG gleich lautend ist mit § 1 Abs. 3 Satz 1 BKKG i.d.F. ab 1994 stellt sich die Frage, ob die für die Verfassungswidrigkeit des § 1 Abs. 3 BKKG a.F. geltenden Gründe ebenso für den wortgleichen § 62 Abs. 2 Satz 1 EStG i.d.F. ab 1996 gelten. Dies dürfte trotz der Systemumstellung ab 1996 vom Familienlastenausgleich (Kindergeld und Kinderfreibetrag) zum Familienleis?tungsausgleich (Kindergeld oder Kinderfreibetrag) zu bejahen sein. Denn die Tatsache, dass ein Ausländer nur im Besitz einer Aufenthaltsbefugnis ist, kann kein Grund für die Versagung des Kindergelds sein, wenn er aufgrund mehrfacher Verlängerung der Aufenthaltsbefugnisse seit Jahren im Inland lebt und Aussicht auf eine unbe?fris?tete Aufenthaltserlaubnis hat.
Der Gesetzgeber ist der Anregung des BVerfG zu einer Neuregelung zum 1.1.2006 weder für den für verfassungswidrig erklärten § 1 Abs. 3 BKKG noch für den gleich lautenden § 62 Abs. 2 Satz 1 EStG nachgekommen. Wegen der zu erwartenden Neuregelung sind entsprechende Fälle weiterhin offen zu halten. Die Gründe des BVerfG-Beschlusses in BVerfGE 111, 160 haben auch Bedeutung für die Beurteilung der Verfassungswidrigkeit der Rechtslage ab 2005. Entscheidend dürfte sein, ob die Neuregelung als sachgerecht angesehen werden kann, das Ziel zu erreichen, Kindergeld nur denjenigen Ausländern zu gewähren, die auf Dauer im Inland verbleiben.
Link zur Entscheidung
BFH, Beschluss vom 23.2.2006, III R 67/98