Ausschluss von Kindergeld bei humanitären Aufenthaltstiteln verfassungswidrig

Es geht dabei um die Vorschrift in der Fassung des "Gesetzes zur Anspruchsberechtigung von Ausländern wegen Kindergeld, Erziehungsgeld und Unterhaltsvorschuss vom 13. Dezember 2006" (im Folgenden: EStG 2006). Nach Einleitung des Vorlageverfahrens wurde § 62 Abs. 2 EStG 2006 mit Wirkung zum 1.3.2020 geändert.
§ 62 Abs. 2 EStG 2006 sieht vor, dass Staatsangehörige der meisten Nicht-EU-Staaten, denen der Aufenthalt in Deutschland aus völkerrechtlichen, humanitären oder politischen Gründen erlaubt ist, nur dann einen Anspruch auf Kindergeld haben, wenn sie sich seit mindestens drei Jahren rechtmäßig, gestattet oder geduldet im Bundesgebiet aufhalten und zusätzlich bestimmte Merkmale der Arbeitsmarktintegration erfüllen, das heißt entweder im Bundesgebiet berechtigt erwerbstätig sind, Arbeitslosengeld I beziehen oder Elternzeit in Anspruch nehmen.
Hintergrund: Gewährung von Kindergeld an Ausländer
Nach § 62 Abs. 2 EStG 2006 ist die Gewährung von Kindergeld an nicht freizügigkeitsberechtigte ausländische Staatsangehörige davon abhängig, über welche Art von Aufenthaltstitel sie verfügen. Ausländer, die eine (stets unbefristete) Niederlassungserlaubnis besitzen, haben einen Anspruch auf Kindergeld. Ausländer, denen lediglich eine (befristete) Aufenthaltserlaubnis erteilt worden ist, nur dann einen Kindergeldanspruch, wenn die erteilte Aufenthaltserlaubnis eine Erwerbstätigkeit erlaubt oder erlaubt hat.
Demgegenüber haben nicht freizügigkeitsberechtigte ausländische Staatsangehörige, denen der Aufenthalt aus völkerrechtlichen, humanitären oder politischen Gründen erlaubt ist, regelmäßig keinen Anspruch auf Kindergeld. Sie sind nur ausnahmsweise anspruchsberechtigt, wenn sie sich seit mindestens drei Jahren rechtmäßig im Bundesgebiet aufhalten und eines der in § 62 Abs. 2 Nr. 3 Buchstabe b EStG 2006 genannten Merkmale der Arbeitsmarktintegration erfüllen.
Nach dem mit Wirkung zum 1.3.2020 neu eingefügten § 62 Abs. 2 Nr. 4 EStG erhält ein nicht freizügigkeitsberechtigter Ausländer Kindergeld, wenn er einen der in Nr. 2 Buchstabe c genannten humanitären Aufenthaltstitel besitzt und sich seit mindestens 15 Monaten erlaubt, gestattet oder geduldet im Bundesgebiet aufhält; auf eine Integration in den deutschen Arbeitsmarkt kommt es in dieser Variante nicht mehr an.
62 Abs. 2 Nr. 3 Buchstabe b EStG 2006 verfassungswidrig
Das BVerfG hält § 62 Abs. 2 Nr. 3 Buchst. b EStG 2006 für materiell verfassungswidrig. Die Vorschrift verstoße gegen den allgemeinen Gleichheitssatz aus Art. 3 Abs. 1 GG.
Die Regelung bewirke eine Ungleichbehandlung zwischen zwei Teilgruppen von Ausländern mit humanitärem Aufenthaltstitel nach den §§ 23 Abs. 1, 23a, 24 oder 25 Abs. 3 bis 5 des Aufenthaltsgesetzes (AufenthG), die sich seit mindestens drei Jahren rechtmäßig, gestattet oder geduldet im Bundesgebiet aufhalten: Einen Anspruch auf Kindergeld hätten nur diejenigen, die zusätzlich zu diesen Merkmalen im Bundesgebiet berechtigt erwerbstätig sind oder es nur vorübergehend nicht sind, weil sie Arbeitslosengeld I beziehen oder Elternzeit in Anspruch nehmen. Wer hingegen keines dieser Merkmale aufweist, erhalte kein Kindergeld.
Diese Ungleichbehandlung entfalle insbesondere nicht dadurch, dass das Fehlen eines Kindergeldanspruchs im Regelfall durch den Anspruch auf Sozialleistungen kompensiert wird. Denn auch in diesem Fall könne es zu einer wirtschaftlichen Schlechterstellung derjenigen Ausländer kommen, die keinen Kindergeldanspruch haben.
Die Ungleichbehandlung ist nach Ansicht des BVerfG nicht gerechtfertigt. Die vom Gesetzgeber gewählten Differenzierungskriterien bestimmten den Kreis der Leistungsberechtigten nicht in geeigneter Weise. Ungeeignet, die zuverlässige Prognose eines dauerhaften Aufenthalts zu begründen und damit das gesetzgeberische Ziel zu erreichen, ist sei vor allem das Kriterium einer Integration in den Arbeitsmarkt.
BVerfG, Beschluss v. 28.6.2022, 2 BvL 9/14, 2 BvL 14/14, 2 BvL 13/14, 2 BvL 10/14
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