Leitsatz
1. Die Einschätzung, ob ein Verfahren Schwierigkeiten aufweist, obliegt dem Entschädigungsgericht, nicht dem Ausgangsgericht.
2. Eine Verzögerungsrüge allein verpflichtet das FG nicht, unverzüglich mit der Bearbeitung zu beginnen.
3. Eine Verzögerungsrüge ist und bleibt unwirksam, wenn sie erhoben wird, bevor Anlass zur Besorgnis besteht, das Verfahren werde nicht in angemessener Zeit abgeschlossen.
4. Der Anlass zur Besorgnis, dass ein Verfahren nicht in angemessener Zeit abgeschlossen wird, verlangt konkrete Anhaltspunkte.
5. Eine wirksame Verzögerungsrüge ist Voraussetzung für jedwede Entschädigung in Geld.
Normenkette
§ 198, § 201 Abs. 4 GVG, § 71 Abs. 2, § 136 Abs. 1 Satz 1 FGO
Sachverhalt
In dem Ausgangsverfahren vor dem FG (FG Köln, Urteil vom 31.3.2015, 8 K 3542/12), das die Nichterklärung von Renteneinkünften durch den Schwager der Klägerin zum Gegenstand hatte, wurde im November 2012 Klage erhoben.
Nachdem der Schriftsatzaustausch im September 2013 endete, erhob die Klägerin im Januar 2014 Verzögerungsrüge gemäß § 198 GVG. Die Frage des FG nach den Gründen für die Notwendigkeit einer beschleunigten Bearbeitung des Verfahrens blieb unbeantwortet. Nach einem Berichterstatterwechsel wurde das Verfahren ab Februar 2015 zügig bearbeitet und der Klage mit Urteil vom 31.3.2015 in vollem Umfang stattgegeben.
Die Klägerin beantragte wegen der überlangen Verfahrensdauer eine angemessene Entschädigung, mindestens aber 1.300 EUR nebst Zinsen.
Entscheidung
Da die Klägerin die Verzögerungsrüge erhoben hatte, bevor konkrete Anhaltspunkte erkennbar waren, die auf eine Verzögerung hindeuteten, und sie die Verzögerungsrüge auch nicht wiederholte, stellte der BFH lediglich fest, dass das Verfahren im Umfang von zwei Monaten verzögert war. Dies führte dazu, dass die Klägerin rund 90 % der Kosten zu tragen hatte.
Hinweis
1. Das Besprechungsurteil zeigt exemplarisch, wie wichtig es ist, den richtigen Zeitpunkt zu ermitteln, um die überlange Verfahrensdauer zu rügen, denn nur eine wirksame Verzögerungsrüge führt zur materiellen Entschädigung der durch die überlange Verfahrensdauer erlittenen immateriellen und auch der materiellen Schäden. Anders kann der Wortlaut des § 198 Abs. 3 Satz 1 GVG nicht verstanden werden.
2. Nach § 198 Abs. 3 Satz 2 Halbsatz 1 GVG kann die Verzögerungsrüge erst erhoben werden, wenn Anlass zur Besorgnis besteht, dass das Verfahren nicht in einer angemessenen Zeit abgeschlossen wird. Wird die Rüge zur Unzeit erhoben, geht die Rüge "ins Leere" (BT-Drucks. 17/3802, S. 20) und wird auch dann nicht wirksam, wenn später tatsächlich eine unangemessene Verfahrensdauer eintritt.
3. Die Besorgnis der Verzögerung i.S.d. § 198 Abs. 3 Satz 2 Halbsatz 1 GVG erfordert zwar noch nicht, dass eine Verzögerung bereits eingetreten ist, ist aber auch nicht voraussetzungslos. Maßgeblich ist, wann ein Betroffener erstmals konkrete Anhaltspunkte dafür hat, dass das Verfahren als solches keinen angemessen zügigen Fortgang nimmt.
4. Zur Bestimmung des richtigen Zeitpunkts für eine Verfahrensrüge erscheint es ratsam, dass sich die Beteiligten eines finanzgerichtlichen Verfahrens an der Regelvermutung für eine angemessene Verfahrensdauer "von gut zwei Jahren" orientieren, die der X. Senat seiner Rechtsprechung zugrunde legt – sofern nicht im Einzelfall Besonderheiten gelten (vgl. grundlegend Zwischenurteil vom 7.11.2013, X K 13/12, BStBl II 2014,179, BFH/NV 2014, 259).
5. Wird eine Verzögerungsrüge zu früh erhoben, kann sie frühestens nach sechs Monaten wiederholt werden, außer wenn ausnahmsweise eine kürzere Frist geboten ist (§ 198 Abs. 3 Satz 2 Halbsatz 2 GVG).
6. Ein Verfahrensbeteiligter darf sich mit seiner Verzögerungsrüge aber auch nicht zu lange Zeit lassen. Der X. Senat hat jüngst entschieden, dass durch eine verspätet erhobene Verzögerungsrüge der Anspruch eines Entschädigungsklägers auf Entschädigung der durch die überlange Verfahrensdauer erlittenen Nachteile auf einen Zeitraum begrenzt wird, der im Regelfall sechs Monate vor Erhebung der Rüge umfasst (BFH, Urteil vom 6.4.2016, X K 1/15, BStBl II 2016, 694, BFH/NV 2016, 1226; a.A. BVerwG, Urteil vom 29.2.2016, NJW 2016, 3464: keine Begrenzung der Rückwirkung).
Link zur Entscheidung
BFH, Urteil vom 26.10.2016 – X K 2/15