Leitsatz
1. Durch eine verspätet erhobene Verzögerungsrüge wird der Anspruch eines Entschädigungsklägers auf Entschädigung der durch die überlange Verfahrensdauer erlittenen Nachteile auf einen Zeitraum begrenzt, der im Regelfall sechs Monate vor Erhebung der Rüge umfasst.
2. Zur Ermittlung des materiellen Nachteils sind die wirtschaftlichen Folgen des tatsächlichen Geschehensablaufs mit denen eines Verfahrensverlaufs ohne die unangemessene Verzögerung zu vergleichen.
Normenkette
§ 198 GVG
Sachverhalt
Das Ausgangsverfahren, in dem es um die Frage ging, ob der Kläger im Inland unbeschränkt steuerpflichtig war, dauerte von August 2010 bis Dezember 2014. Der Verfahrensablauf war wie folgt: Im April 2011 begründete das FA seinen Antrag auf Klageabweisung. Der sich anschließenden Bitte des FG um Stellungnahme kam der Prozessbevollmächtigte des Klägers zunächst nicht nach. Im Oktober 2012 teilte der Kläger persönlich dem FG seine Adressänderung mit. Nach erneuter Aufforderung durch das FG nahm der Kläger zum Vorbringen des FA Stellung. Im Januar 2013 verzichtete das FA auf eine weitergehende Stellungnahme. Im Juli 2013 erhob der Kläger Verzögerungsrüge. Das FG lud im September 2014 zur mündlichen Verhandlung. Diese fand im Dezember 2014 statt und führte – nachdem das FA die Aufhebung der Steuerbescheide zugesagt hatte – zur Erledigung der Hauptsache. Mit seiner im April 2015 erhobenen Entschädigungsklage rügte der Kläger, die Verfahrensdauer von 50 1/2 Monaten müsse nicht hingenommen werden. Sein materieller Schaden bestehe darin, dass er zur Sicherung der vom FA geforderten Steuerschuld eine Bankbürgschaft habe erbringen müssen, die ihn jährlich 1.500 EUR gekostet habe.
Entscheidung
Der BFH hat das beklagte Bundesland verurteilt, an den Kläger wegen der überlangen Dauer des Verfahrens für einen Zeitraum von 19 Monaten eine Entschädigung für materielle Nachteile i.H.v. 2.375 EUR sowie für immaterielle Nachteile i.H.v. 1.900 EUR zu zahlen. In Bezug auf die Verzögerung des Verfahrens im September 2012 hat es wegen der verspätet erhobenen Verzögerungsrüge lediglich die Verzögerung des Verfahrens festgestellt.
Hinweis
Dieses Urteil enthält zwei – soweit erkennbar – auch von den anderen Bundesgerichten bislang noch nicht tragend entschiedene Aspekte im Bereich der Entschädigungsklagen wegen überlanger Verfahrensdauer.
1. Voraussetzung, um wegen einer überlangen Verfahrensdauer auch materiell und nicht nur mit der Feststellung der Verzögerung entschädigt zu werden, ist die wirksame Erhebung einer Verzögerungsrüge.
Die Verzögerungsrüge darf erst erhoben werden, wenn Anlass zur Besorgnis besteht, dass das Verfahren nicht in einer angemessenen Zeit abgeschlossen werden kann; eine zu früh erhobene Verzögerungsrüge ist daher unwirksam. Sie kann grundsätzlich erst nach 6 Monaten wiederholt werden (vgl. § 198 Abs. 3 Satz 2 GVG).
Das GVG legt demgegenüber nicht fest, bis zu welchem Zeitpunkt eine Verzögerungsrüge spätestens erhoben werden muss. Daraus wird zum Teil gefolgert, dass die Verzögerungsrüge lediglich im laufenden Ausgangsverfahren erhoben werden muss, ohne dass ein Endtermin bestimmt und damit eine Frist für die Rüge festgelegt wird (so BGH, Urteil vom 10.4.2014, III ZR 335/13, NJW 2014, 1967, Rz. 31) und eine verspätet erhobene Verzögerungsrüge unschädlich ist (BSG-Urteil vom 5.5.2015, B 10 ÜG 8/14 R, Sozialrecht 4 1710 Art. 23 Nr. 4, Rz. 24).
Der X. Senat ist demgegenüber der Ansicht, dass eine unbeschränkt zurückwirkende Verzögerungsrüge dem präventiven Aspekt des Gesetzeszwecks nicht entsprechen, sondern diesen leerlaufen lassen würde, sodass er der Verzögerungsrüge nur eine begrenzte Rückwirkung zubilligt. Um die Rechtsprechung im Bereich der Entschädigungsklagen vorhersehbar und berechenbar zu machen, stellt er eine Vermutungsregel auf, wonach eine Verzögerungsrüge 6 Monate zurückwirkt, sodass ein Beteiligter nur für diesen Zeitraum eine Entschädigung in Geld erhalten kann. Für den weiter zurückliegenden Zeitraum, in dem das Verfahren ebenfalls bereits verzögert war, kann lediglich die überlange Verfahrensdauer festgestellt werden.
Damit ist es für den Berater äußerst wichtig, die Verzögerungsrüge im richtigen Moment zu erheben. Ein Anhaltspunkt zur Ermittlung dieses Zeitpunkts kann dabei die der Rechtsprechung des X. Senats zugrunde liegende Pauschalierung sein, wonach das Gericht gut zwei Jahre nach dem Eingang der Klage mit den Maßnahmen beginnen sollte, die das Verfahren einer Entscheidung zuführen.
2. Während in den bisherigen Entschädigungsklagen des X. Senats vor allem der immaterielle Schaden zu ersetzen war, musste in diesem Urteil der materielle Schaden ermittelt werden, der durch die Verzögerung verursacht wurde. Im Streitfall hatte der Steuerpflichtige Avalprovisionen für eine Bankbürgschaft zu erbringen, um AdV zu erlangen. Der BFH hat diese Kosten als nach § 198 GVG zu ersetzenden materiellen Schaden angesehen und dabei geprüft, wie das Verfahren ohne die Verzögerung verlaufen wäre. Dieses Ergebnis hat er dann...