Leitsatz
1. Die für die Annahme eines Pflegekindschaftsverhältnisses i.S.v. § 32 Abs. 1 Nr. 2 EStG erforderliche Voraussetzung, dass der Steuerpflichtige mit der Person "durch ein familienähnliches, auf längere Dauer berechnetes Band verbunden ist", lässt sich bei einer bereits volljährigen Person nur unter engen Voraussetzungen und bei Vorliegen ganz besonderer Umstände begründen.
2. Handelt es sich um eine geistig oder seelisch behinderte Person, muss die Behinderung so schwer sein, dass der geistige Zustand des Behinderten dem typischen Entwicklungsstand einer noch minderjährigen Person entspricht.
3. Die Wohn- und Lebensverhältnisse der behinderten Person müssen den Verhältnissen leiblicher Kinder vergleichbar sein und eine Zugehörigkeit der behinderten Person zur Familie widerspiegeln.
4. Der Steuerpflichtige muss zu der behinderten Person in einem dem Eltern-Kind-Verhältnis vergleichbaren Erziehungsverhältnis stehen, das sich auf eine durch den Steuerpflichtigen gegenüber der behinderten Person eingenommene Autoritätsstellung stützt.
5. Damit die behinderte Person mit dem Steuerpflichtigen durch ein familienähnliches Band "verbunden ist", muss die ideelle Beziehung zwischen den beiden Personen bereits über einen längeren Zeitraum bestanden haben, bevor von einer ideellen Bindung ausgegangen werden kann.
6. Ein "auf längere Dauer berechnetes Band" liegt vor, wenn aus Sicht des Steuerpflichtigen beabsichtigt ist, die bereits entstandene familiäre Bindung auch zukünftig langjährig aufrechtzuerhalten. Insoweit ist eine beabsichtigte Dauer von zwei Jahren in der Regel als ausreichend anzusehen.
Normenkette
§ 32 Abs. 1 Nr. 2, Abs. 4 Satz 1 Nr. 3 EStG
Sachverhalt
Die 1954 geborene Klägerin nahm 1999 die 1952 geborene Frau S in ihren Haushalt auf und betreut sie seitdem im Rahmen der "Familienpflege für erwachsene geistig und körperlich behinderte Menschen". Daneben befanden sich im Haushalt eine leibliche Tochter und drei weitere Pflegekinder. S ist seit ihrer Geburt schwerbehindert und bezieht seit 1997 eine Rente wegen Erwerbsunfähigkeit. Ihr GdB betrug zunächst 50, seit 2007 wurde er mit 90 und eine geistige Behinderung festgestellt. Der Aufgabenkreis des vom Vormundschaftsgericht für S bestellten Betreuers umfasst die Vermögensangelegenheiten, die Aufenthaltsbestimmung, die Mitwirkung bei Maßnahmen der Heilbehandlung und Gesundheitsfürsorge und die Entgegennahme der Post. Das Sozialamt gewährt seit September 2006 Eingliederungshilfe (§§ 53ff. SGB XII). Die Klägerin erhält ein Betreuungsentgelt, das sich zusammensetzt aus einem Betrag für den durch das eigene Einkommen der S nicht gedeckten Grundbedarf und einem weiteren Betrag, der als Pflegegeld gezahlt wird.
Die Familienkasse lehnte im September 2007 den Antrag der Klägerin ab, ihr Kindergeld für die S als Pflegekind zu gewähren, und wies den Einspruch als unbegründet zurück.
Das FG Baden-Württemberg, Urteil vom 3.2.2009, 12 K 2612/07, Haufe-Index 2158614, EFG 2009, 1210, gab der Klage teilweise statt.
Entscheidung
Der BFH hat das FG-Urteil aufgehoben und zurückverwiesen. Im zweiten Rechtsgang ist das Vorliegen eines Pflegekindschaftsverhältnisses anhand der in den Leitsätzen formulierten Kriterien zu prüfen.
Hinweis
1. Ein Kindergeldanspruch besteht nach § 32 Abs. 1 Nr. 2 EStG auch für Pflegekinder. Pflegekind ist nach der Legaldefinition im Klammerzusatz des § 32 Abs. 1 Nr. 2 EStG eine Person, mit der der Steuerpflichtige durch ein familienähnliches, auf längere Dauer berechnetes Band verbunden ist, sofern er sie nicht zu Erwerbszwecken in seinen Haushalt aufgenommen hat und das Obhuts- und Pflegeverhältnis zu den Eltern nicht mehr besteht.
2. Mit dem vorliegenden Urteil hat der BFH die Anforderungen an ein Pflegekindschaftsverhältnis zu einer volljährigen behinderten Person in recht restriktiver Weise konkretisiert. Das Verhältnis zwischen Pflegeeltern und -kind hat danach im Wesentlichen dem zwischen leiblichen Eltern und ihrem minderjährigen Kind zu entsprechen. Erforderlich ist u.a. eine langfristige ideelle Beziehung, in der die Pflegeeltern eine erziehende Rolle wahrnehmen.
Link zur Entscheidung
BFH, Urteil vom 9.2.2012, III R 15/09