OFD Magdeburg, Verfügung v. 10.11.1997, S 0353 - 4 - St 251
1. Rückwirkendes Ereignis
Der Erlaß, die Änderung oder die Aufhebung eines Steuerbescheides nach § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AO setzt voraus, daß ein Ereignis eingetreten ist, das steuerliche Wirkung für die Vergangenheit hat. Das Ereignis muß nachträglich, d.h. nach Erlaß des Steuerbescheides eingetreten sein ( BFH-Urteil vom 26.10.1988, II R 55/86, BStBl 1988 II S. 75) und sich für die Vergangenheit auswirken, d.h. den der Steuerfestsetzung bisher zugrunde gelegten Sachverhalt rückwirkend verändern. Dies unterscheidet die Änderungsmöglichkeit nach § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AO von der Änderungsmöglichkeit nach § 173 Abs. 1 AO wegen neuer Tatsachen oder Beweismittel. Die Änderungsmöglichkeit nach § 173 Abs. 1 AO stellt darauf ab, daß die Kenntnis des Finanzamts bezüglich des bei Erlaß des Steuerbescheides tatsächlich vorhandenen Sachverhalts nachträglich erweitert wird. Bei der Änderungsmöglichkeit nach § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AO erfährt der steuerlich relevante Sachverhalt dagegen nachträglich und rückwirkend eine andere Gestaltung dadurch, daß nach Erlaß des Steuerbescheides ein Ereignis eintritt, das vom FA bei der Steuerfestsetzung nicht berücksichtigt wurde, weil es z.B. als in der Zukunft liegend noch nicht bekannt oder vorhersehbar war. Die Möglichkeit der Änderung von Steuerbescheiden wegen neuer Tatsachen oder Beweismittel im Sinne von § 173 Abs. 1 AO und die Möglichkeit der Änderung von Steuerbescheiden wegen Eintritts eines rückwirkenden Ereignisses gemäß § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AO schließen einander daher grundsätzlich aus, BFH-Urteil vom 21.4.1988, IV R 215/85, BStBl 1988 II S. 863).
Ob ein Ereignis – entgegen dem grundsätzlich im Steuerrecht geltenden Rückwirkungsverbot – in die Vergangenheit zurückreicht, richtet sich nach den Normen des jeweils anzuwendenden materiellen Steuerrechts ( BFH-Urteil vom 26.7.1984, IV R 10/83, BStBl 1984 II S. 786 und vom 12.7.1989, X R 8/84, BStBl 1989 II S. 957). Der Fall eines rückwirkenden Ereignisses liegt vor allem dann vor, wenn die Besteuerung nach dem maßgeblichen Einzelsteuergesetz nicht an Lebensvorgänge, sondern unmittelbar oder mittelbar an Rechtsgeschäfte, Rechtsverhältnisse oder Verwaltungsakte anknüpft und diese Umstände nachträglich mit Wirkung für die Vergangenheit gestaltet werden ( BFH-Urteil vom 21.4.1988, IV R 215/85, BStBl 1988 II S. 863).
Beispiele:
- Ein Veräußerungsgewinn aus der Übertragung eines Mitunternehmeranteils gilt als mit der Übertragung realisiert; die spätere vergleichsweise Festlegung eines bisher strittigen Abfindungsanspruchs bedeutet ein Ereignis mit steuerlicher Wirkung für die Vergangenheit ( BFH-Urteil vom 26.7.1984, IV R 10/83, BStBl 1984 II S. 786).
- Nachträgliche Anschaffungskosten für eine Beteiligung im Sinne des § 17 Abs. 2 Satz 1 EStG können bei der Ermittlung des Auflösungsgewinns nach § 17 Abs. 4 EStG als rückwirkendes Ereignis berücksichtigt werden (BFH-Urteil vom 2.10.1984, VIII R 20/84, BStBl 1985 II S. 428).
- Die nachträgliche Herabsetzung des Kaufpreises für einen Betrieb aufgrund von Einwendungen des Käufers gegen die Rechtswirksamkeit des Kaufvertrags ist ein rückwirkendes Ereignis, das nach § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AO zur Änderung des Steuerbescheids führt, dem der nach dem ursprünglich vereinbarten Kaufpreis ermittelte Veräußerungsgewinn zugrunde liegt ( BFH-Urteil vom 23.6.1988, IV R 84/86, BStBl 1989 II S. 41).
- Die gestundete Kaufpreisforderung für die Veräußerung eines Gewerbebetriebs wird in einem späteren Veranlagungszeitraum ganz oder teilweise uneinbringlich ( BFH-Beschluß vom 19.7.1993, GrS 2/92, BStBl 1993 II S. 897).
- Die Berechtigung zum Vorsteuerabzug richtet sich nach der erstmaligen tatsächlichen Verwendung der bezogenen Leistung und nicht nach der zunächst beabsichtigten Verwendung. Die Steuerfestsetzung für den Besteuerungszeitraum, in den die Vorsteuerbeträge fallen, kann schon vor der erstmaligen Verwendung der bezogenen Leistung durchgeführt werden. Ist der Vorsteuerabzug nach der späteren erstmaligen Verwendung zu versagen, so stellt die spätere erstmalige Verwendung ein rückwirkendes Ereignis im Sinne des § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AO dar ( BFH-Urteil vom 26.2.1987, V R 1/79, BStBl 1987 II S. 521).
- Nach Eintritt der Bestandskraft wird sowohl die Zustimmung zur Anwendung des Realsplittings erteilt als auch der Antrag nach § 10 Abs. 1 Nr. 1 Satz 1 EStG gestellt ( BFH-Urteil vom 12.7.1989, X R 8/84, BStBl 1989 II S. 957).
- Nach Erlaß des Steuerbescheides stellt sich heraus, daß Ausgaben, die als Betriebsausgaben steuerlich berücksichtigt wurden, mit Straftaten nach § 4 Abs. 5 Nr. 10 EStG (gilt ab Veranlagungszeitraum 1996) in Zusammenhang stehen.
- Eine Gerichtsentscheidung kann ein rückwirkendes Ereignis darstellen, wenn sie den Tatbestand, an den das Steuergesetz anknüpft, rückwirkend verändert (BFH-Urteil vom 3.8.1988, I R 115/84, BFH/NV 1989 S. 482, und vom 2.8.1994, VIII R 65/93, BStBl 1995 II S. 264).
Kein rückwirkendes Ereigni...