Leitsatz
Hat der Schuldner der Kapitalerträge seiner Pflicht zur Steueranmeldung genügt, so steht dies einer Steuerfestsetzung unter dem Vorbehalt der Nachprüfung gleich. Diese Steuerfestsetzung kann – auch nach Eintritt der Bestandskraft und nach Aufhebung des Vorbehaltsvermerks – nach § 174 Abs. 4 AO wegen widerstreitender Festsetzung geändert werden. Die Voraussetzungen für den Erlass eines sog. Nacherhebungsbescheids sind hierbei nicht zu beachten.
Normenkette
§ 164, § 167, § 168, § 174 Abs. 4 AO, § 44 Abs. 5 EStG 1997
Sachverhalt
Die Klägerin, eine GmbH, schüttete, nachdem sie zuvor mit Vertrag vom 2.11.2000 ihr Stammkapital um einen an eine Gesellschaft für Rücklagenmanagement (GfR) ausgegebenen sog. Vorzugsgeschäftsanteil erhöht hatte (Ausgabepreis: rd. 24,8 Mio. DM), an die GfR aufgrund Beschlusses vom 6.12.2000 eine Vorzugsdividende von rd. 23,1 Mio. DM für das Geschäftsjahr 1999 aus.
Für die am 15.12.2000 gezahlte Dividende meldete die Klägerin am 10.1.2001 die KapESt (von rd. 5,8 Mio. DM) beim FA an und führte die Beträge an dieses ab (§ 45a Abs. 1 i.V.m. § 44 Abs. 1 EStG 1997 n.F.). Die sich aus der Ausschüttung ergebende KSt-Minderung (rd. 4,8 Mio. DM) wurde unter dem Vorbehalt der Nachprüfung (§ 164 der AO) mit KSt-Bescheid 1999 vom 9.3.2001 berücksichtigt.
Das FA vertrat im weiteren Verlauf die Ansicht, dass bei Gestaltungen der vorliegenden Art die von der Klägerin an die GfR ausgekehrten Beträge nicht als Gewinnausschüttung, sondern als Darlehensrückzahlung zu werten seien. Demgemäß erkannte es die bis dahin gewährte KSt-Minderung nicht mehr an und änderte – wiederum unter dem Vorbehalt der Nachprüfung (§ 164 AO) – mit Bescheid vom 25.7.2002 die KSt-Festsetzung 1999. Der Bescheid wurde nicht angefochten.
Entsprechend dem in der Anlage dieses Bescheids gegebenen Hinweis beantragte die Klägerin die Erstattung der KapESt gem. § 44b Abs. 4 EStG 1997/Abs. 5 EStG 1997 n.F. Mit Bescheid vom 9.7.2002 hob das FA die KapESt-Anmeldung für Dezember 2000 nach § 168 i.V.m. § 164 Abs. 2 AO auf (§ 44b Abs. 4 EStG 1997). Die abgeführten Beträge wurden der Klägerin erstattet.
Im Anschluss hieran forderte die Klägerin die GfR auf, die Bescheinigung über die einbehaltene und abgeführte KapESt zurückzugeben, und informierte – nachdem dies nicht geschah – darüber sowohl das FA als auch das für die GfR zuständige FA.
Mit Bescheid vom 1.9.2004 änderte das FA die KSt-Festsetzung 1999 und hob zugleich den Vorbehalt der Nachprüfung auf. Der hiergegen erhobene Einspruch richtete sich gegen die vom FA (weiterhin) vertretene Beurteilung der Vorzugsdividende als Darlehensrückzahlung.
Nachdem der BFH mit Urteil vom 28.6.2006, I R 97/05 (BFH/NV 2006, 2207, BFH/PR 2006, 495) entschieden hatte, dass Gestaltungen der vorliegenden Art (Rücklagenmanagement) nicht in ein Darlehen umgedeutet werden können und auch nicht als rechtsmissbräuchlich einzustufen sind, wurde mit Bescheid vom 1.12.2009 die KSt-Festsetzung 1999 unter Berücksichtigung der KSt-Minderung erneut geändert.
Gleichfalls mit Bescheid vom 1.12.2009 setzte das FA die KapESt i.H.d. ursprünglich von der Klägerin erklärten Betrages fest.
Die dagegen erhobenen Klage hatte Erfolg (FG des Saarlandes, Urteil vom 21.6.2012, 1 K 1041/11, Haufe-Index 3447811).
Entscheidung
Der BFH hob das FG-Urteil auf und wies die Klage ab. Die Gründe dafür sind sehr einzelfallbezogen und bleiben deswegen der Textlektüre des Urteils in Gänze überlassen. Die markanten rechtlichen Grundaussagen ergeben sich aus den Praxis-Hinweisen.
Hinweis
1."Ursächlich" für das Urteil ist ein anderes Urteil des BFH, nämlich das Urteil vom 28.6.2006, I R 97/05 (BFH/NV 2006, 2207, BFH/PR 2006, 495). Es ging dort um fantasievolle (aber nachvollziehbare) Gestaltungen, um (früheres) KSt-Guthaben zu "mobilisieren", und darum, auf diesem Wege die Guthaben dem Zugriff der Übergangsregelungen vom KSt-Anrechnungsverfahren zum (ebenfalls früheren) Halbeinkünfteverfahren zu entziehen. Das alles hat sich zu einem Gutteil erledigt, nachdem das BVerfG später in seinem Beschluss vom 17.11.2009, 1 BvR 2192/05 (BGBl I 2010, 326, BFH/NV 2010, 803, BFH/PR 2010, 172) die besagten Übergangsregelungen zum Teil für verfassungswidrig erklärt hatte.
Der BFH hatte jedenfalls solche Gestaltungen zunächst als nicht rechtsmissbräuchlich abgesegnet. Einzelnes dazu ergibt sich aus den Praxis-Hinweisen in BFH/PR 2006, 495 und in BFH/PR 2010, 172.
2. Die Finanzverwaltung hatte zuvor naturgemäß anderes angenommen, und daraus ergab sich ein (auch) verfahrensrechtliches Hin und Her, dessen materieller Kern hier dahinstehen soll. Zusammengefasst stellt sich die inkriminierte Verfahrenslage wie folgt dar:
Ein bestimmter Vorgang wurde sowohl seitens der Kapitalgesellschaft als auch seitens des FA zunächst als Gewinnausschüttung an eine andere, an ihr beteiligte Kapitalgesellschaft qualifiziert, dementsprechend dem KapESt-Abzug unterworfen und zugleich als geeignet angesehen, das KSt-Minderungspotenzial zu erhöhen. Sodann änderte das FA seine Meinung, sah in j...