Entscheidungsstichwort (Thema)
Vorlage zur Vorabentscheidung. Mehrwertsteuer. Grundsätze der Steuerneutralität, der Effektivität und der Verhältnismäßigkeit. Recht auf Vorsteuerabzug. Verweigerung. Voraussetzungen für das Vorliegen einer Lieferung von Gegenständen. Betrug. Nachweis. Sanktion. Recht auf einen wirksamen gerichtlichen Rechtsbehelf
Normenkette
Verfahrensordnung des Gerichtshofs Art. 99; Charta der Grundrechte der Europäischen Union Art. 47; Richtlinie 2006/112/EG Art. 168, 178, 220, 226
Beteiligte
Nemzeti Adó- és Vámhivatal Fellebbviteli Igazgatósága |
Tenor
Die Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom 28. November 2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem ist in Verbindung mit den Grundsätzen der Steuerneutralität, der Effektivität und der Verhältnismäßigkeit dahin auszulegen, dass sie einer nationalen Praxis entgegensteht, mit der die Steuerverwaltung einem Steuerpflichtigen das Recht auf Abzug der für den Erwerb ihm gelieferter Gegenstände entrichteten Mehrwertsteuer mit der Begründung verweigert, dass die entsprechenden Rechnungen für diesen Erwerb nicht glaubhaft seien, da erstens die Herstellung dieser Gegenstände sowie deren Lieferung mangels der erforderlichen materiellen und personellen Mittel nicht vom Rechnungsaussteller hätten durchgeführt werden können und diese Gegenstände daher in Wirklichkeit bei einer nicht identifizierten Person erworben worden seien, zweitens die nationalen Rechnungslegungsvorschriften nicht eingehalten worden seien, drittens die Lieferkette, die zu diesem Erwerb geführt habe, wirtschaftlich nicht gerechtfertigt gewesen sei und viertens bestimmte in dieser Lieferkette vorgelagerte Umsätze mit Unregelmäßigkeiten behaftet gewesen seien. Zur Begründung einer solchen Verweigerung ist rechtlich hinreichend nachzuweisen, dass der Steuerpflichtige an einem Betrug aktiv beteiligt war oder dass er wusste oder hätte wissen müssen, dass die betreffenden Umsätze in einen vom Rechnungsaussteller oder von einem anderen Wirtschaftsbeteiligten auf einer vorhergehenden Umsatzstufe dieser Lieferkette begangenen Betrug einbezogen waren, was zu prüfen Sache des vorlegenden Gerichts ist.
Tatbestand
In der Rechtssache
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Fővárosi Közigazgatási és Munkaügyi Bíróság (Verwaltungs- und Arbeitsgericht Budapest, Ungarn) mit Entscheidung vom 5. Juli 2019, beim Gerichtshof eingegangen am 13. August 2019, in dem Verfahren
Vikingo Fővállalkozó Kft.
gegen
Nemzeti Adó- és Vámhivatal Fellebbviteli Igazgatósága
erlässt
DER GERICHTSHOF (Zehnte Kammer)
unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten I. Jarukaitis (Berichterstatter) sowie der Richter E. Juhász und M. Ilešič,
Generalanwalt: P. Pikamäe,
Kanzler: A. Calot Escobar,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
- der ungarischen Regierung, vertreten durch M. Z. Fehér und G. Koós als Bevollmächtigte,
- der Europäischen Kommission, vertreten durch J. Jokubauskaite und Zs. Teleki als Bevollmächtigte,
aufgrund der nach Anhörung des Generalanwalts ergangenen Entscheidung, gemäß Art. 99 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs durch mit Gründen versehenen Beschluss zu entscheiden,
folgenden
Beschluss
Entscheidungsgründe
Rz. 1
Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 168 Buchst. a, Art. 178 Buchst. a, Art. 220 Abs. 1 und Art. 226 der Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom 28. November 2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem (ABl. 2006, L 347, S. 1) in Verbindung mit den Grundsätzen der Steuerneutralität, der Effektivität und der Verhältnismäßigkeit sowie Art. 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta).
Rz. 2
Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen der Vikingo Fővállalkozó Kft. (im Folgenden: Vikingo) und der Nemzeti Adó- és Vámhivatal Fellebbviteli Igazgatósága (Rechtsbehelfsdirektion der nationalen Steuer- und Zollverwaltung, Ungarn) über das Recht auf Abzug der entrichteten Vorsteuer aus zwei Rechnungen über den Erwerb von Maschinen.
Rechtlicher Rahmen
Unionsrecht
Rz. 3
In Anbetracht des Zeitraums, in dem sich der Sachverhalt des Ausgangsverfahrens ereignet hat, ist festzustellen, dass in zeitlicher Hinsicht die Richtlinie 2006/112 in der ab dem 1. Januar 2013 geltenden Fassung der Richtlinie 2010/45/EU des Rates vom 13. Juli 2010 (ABl. 2010, L 189, S. 1) auf Teile dieses Sachverhalts anwendbar ist. Die durch diese Richtlinie vorgenommenen Änderungen haben aber für die vorliegende Rechtssache keine unmittelbare Bedeutung.
Rz. 4
Art. 14 Abs. 1 der Richtlinie 2006/112 bestimmt:
„Als ‚Lieferung von Gegenständen’ gilt die Übertragung der Befähigung, wie ein Eigentümer über einen körperlichen Gegenstand zu verfügen.”
Rz. 5
Art. 168 dieser Richtlinie sieht vor:
„Soweit die Gegenstände und Dienstleistungen für die Zwecke seiner besteuerten Umsätze verwendet werden, ist der Steuerpflichtige berechtigt, in dem Mitgliedstaat, in dem er diese Umsätze bewirkt, vom Betrag der von ihm...