Entscheidungsstichwort (Thema)
Vorlage zur Vorabentscheidung. Mehrwertsteuer. Steuerpflichtige. Möglichkeit der Mitgliedstaaten, Einheiten, die zwar rechtlich unabhängig, aber durch gegenseitige finanzielle, wirtschaftliche und organisatorische Beziehungen eng miteinander verbunden sind, zusammen als einen Steuerpflichtigen zu behandeln (‚Mehrwertsteuergruppe’). Nationale Regelung, die den Organträger der Mehrwertsteuergruppe zum einzigen Steuerpflichtigen bestimmt. Begriff ‚enge finanzielle Verbindung’. Erfordernis, dass der Organträger zusätzlich zu einer Mehrheitsbeteiligung über eine Stimmrechtsmehrheit verfügt. Fehlen. Beurteilung der Selbständigkeit einer wirtschaftlichen Einheit nach Maßgabe standardisierter Kriterien. Bedeutung
Normenkette
EWGRL 388/77 Art. 4 Abs. 4 Unterabs. 2
Beteiligte
Norddeutsche Gesellschaft für Diakonie |
Norddeutsche Gesellschaft für Diakonie mbH |
Verfahrensgang
Nachgehend
Tenor
1. Art. 4 Abs. 4 Unterabs. 2 der Sechsten Richtlinie 77/388/EWG des Rates vom 17. Mai 1977 zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Umsatzsteuern – Gemeinsames Mehrwertsteuersystem: einheitliche steuerpflichtige Bemessungsgrundlage in der durch die Richtlinie 2000/65/EG des Rates vom 17. Oktober 2000 geänderten Fassung
ist dahin auszulegen, dass
er es einem Mitgliedstaat nicht verwehrt, zum einzigen Steuerpflichtigen einer Gruppe von Personen, die zwar rechtlich unabhängig, aber durch gegenseitige finanzielle, wirtschaftliche und organisatorische Beziehungen eng miteinander verbunden sind, den Organträger dieser Gruppe zu bestimmen, wenn dieser in der Lage ist, seinen Willen bei den anderen Mitgliedern dieser Gruppe durchzusetzen, und unter der Voraussetzung, dass diese Bestimmung nicht zur Gefahr von Steuerverlusten führt.
2. Art. 4 Abs. 4 Unterabs. 2 der Sechsten Richtlinie 77/388 in der durch die Richtlinie 2000/65 geänderten Fassung
ist dahin auszulegen, dass
er einer nationalen Regelung entgegensteht, die die Möglichkeit einer Einheit, mit dem Unternehmen des Organträgers eine Gruppe von Personen, die zwar rechtlich unabhängig, aber durch gegenseitige finanzielle, wirtschaftliche und organisatorische Beziehungen eng miteinander verbunden sind, zu bilden, an die Bedingung knüpft, dass der Organträger zusätzlich zu einer Mehrheitsbeteiligung an dieser Einheit über eine Stimmrechtsmehrheit bei ihr verfügt.
3. Art. 4 Abs. 4 Unterabs. 2 der Sechsten Richtlinie 77/388 in der durch die Richtlinie 2000/65 geänderten Fassung ist in Verbindung mit Art. 4 Abs. 1 Unterabs. 1 der Richtlinie 77/388 in geänderter Fassung
dahin auszulegen, dass
er es einem Mitgliedstaat nicht gestattet, Einheiten im Wege der Typisierung als nicht selbständig anzusehen, wenn sie finanziell, wirtschaftlich und organisatorisch in den Organträger einer Gruppe von Personen, die zwar rechtlich unabhängig, aber durch gegenseitige finanzielle, wirtschaftliche und organisatorische Beziehungen eng miteinander verbunden sind, eingegliedert sind.
Tatbestand
In der Rechtssache
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Bundesfinanzhof (Deutschland) mit Entscheidung vom 11. Dezember 2019, beim Gerichtshof eingegangen am 23. März 2020, in dem Verfahren
Finanzamt Kiel
gegen
Norddeutsche Gesellschaft für Diakonie mbH
erlässt
DER GERICHTSHOF (Erste Kammer)
unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten A. Arabadjiev, der Richter P. G. Xuereb (Berichterstatter), T. von Danwitz und A. Kumin sowie der Richterin I. Ziemele,
Generalanwältin: L. Medina,
Kanzler: A. Calot Escobar,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
- der Norddeutschen Gesellschaft für Diakonie mbH, vertreten durch Rechtsanwalt B. Richter,
- der deutschen Regierung, vertreten durch J. Möller, S. Eisenberg und S. Heimerl als Bevollmächtigte,
- der italienischen Regierung, vertreten durch G. Palmieri als Bevollmächtigte im Beistand von P. Gentili, Avvocato dello Stato,
- der Europäischen Kommission, vertreten durch A. Armenia und R. Pethke als Bevollmächtigte,
nach Anhörung der Schlussanträge der Generalanwältin in der Sitzung vom 13. Januar 2022
folgendes
Urteil
Entscheidungsgründe
Rz. 1
Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 4 Abs. 1 und 4 sowie von Art. 21 Abs. 1 Buchst. a und Abs. 3 der Sechsten Richtlinie 77/388/EWG des Rates vom 17. Mai 1977 zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Umsatzsteuern – Gemeinsames Mehrwertsteuersystem: einheitliche steuerpflichtige Bemessungsgrundlage (ABl. 1977, L 145, S. 1) in der durch die Richtlinie 2000/65/EG des Rates vom 17. Oktober 2000 (ABl. 2000, L 269, S. 44) geänderten Fassung (im Folgenden: Sechste Richtlinie).
Rz. 2
Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen dem Finanzamt Kiel (Deutschland) (im Folgenden: Finanzamt) und der Norddeutschen Gesellschaft für Diakonie mbH...