Entscheidungsstichwort (Thema)
Ausfuhrerstattung, Rückforderung, analoge Anwendung einer einer nationalen Auffangregelung entnommenen Verjährungsfrist
Leitsatz (amtlich)
1. Unter den in den Ausgangsverfahren gegebenen Umständen verwehrt es der Grundsatz der Rechtssicherheit den Behörden und Gerichten eines Mitgliedstaats grundsätzlich nicht, im Kontext des in der Verordnung (EG, Euratom) Nr. 2988/95 des Rates vom 18. Dezember 1995 über den Schutz der finanziellen Interessen der Europäischen Gemeinschaften festgelegten Schutzes der finanziellen Interessen der Union und in Anwendung des Art. 3 Abs. 3 dieser Verordnung auf Rechtsstreitigkeiten über die Rückforderung einer zu Unrecht gezahlten Ausfuhrerstattung „analog“ eine einer nationalen Auffangregelung entnommene Verjährungsfrist anzuwenden, vorausgesetzt allerdings, dass eine solche sich aus einer Rechtsprechungspraxis ergebende Anwendung hinreichend vorhersehbar war, was zu prüfen Sache des vorlegenden Gerichts ist.
2. Unter den in den Ausgangsverfahren gegebenen Umständen verwehrt es der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit den Mitgliedstaaten im Rahmen des Gebrauchs der ihnen durch Art. 3 Abs. 3 der Verordnung Nr. 2988/95 gebotenen Möglichkeit eine 30-jährige Verjährungsfrist auf Rechtsstreitigkeiten über die Rückforderung von zu Unrecht gezahlten Erstattungen anzuwenden.
3. Unter den in den Ausgangsverfahren gegebenen Umständen steht der Grundsatz der Rechtssicherheit dem entgegen, dass sich eine „längere“ Verjährungsfrist im Sinne des Art. 3 Abs. 3 der Verordnung Nr. 2988/95 aus einer allgemeinen Verjährungsfrist ergeben kann, die durch die Rechtsprechung verkürzt wird, damit sie dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit genügt, da jedenfalls die vierjährige Verjährungsfrist des Art. 3 Abs. 1 Unterabs. 1 der Verordnung Nr. 2988/95 unter diesen Umständen anwendbar ist.
Normenkette
EGV 2988/95 Art. 3 Abs. 1, 3
Beteiligte
Hauptzollamt Hamburg-Jonas |
Verfahrensgang
Tatbestand
„Verordnung (EG, Euratom) Nr. 2988/95 ‐ Schutz der finanziellen Interessen der Europäischen Union ‐ Art. 3 ‐ Rückforderung einer Ausfuhrerstattung ‐ 30-jährige Verjährungsfrist ‐ Verjährungsregelung, die Teil des allgemeinen bürgerlichen Rechts eines Mitgliedstaats ist ‐ ‚Analoge‘ Anwendung ‐ Grundsatz der Rechtssicherheit ‐ Grundsatz des Vertrauensschutzes ‐ Grundsatz der Verhältnismäßigkeit“
In den verbundenen Rechtssachen C-201/10 und C-202/10
betreffend Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Finanzgericht Hamburg (Deutschland) mit Entscheidungen vom 12. Februar 2010, beim Gerichtshof eingegangen am 26. April 2010, in den Verfahren
Ze Fu Fleischhandel GmbH (C-201/10),
Vion Trading GmbH (C-202/10)
gegen
Hauptzollamt Hamburg-Jonas
erlässt
DER GERICHTSHOF (Vierte Kammer)
unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten J.-C. Bonichot, der Richter K. Schiemann und L. Bay Larsen sowie der Richterinnen C. Toader (Berichterstatterin) und A. Prechal,
Generalanwältin: E. Sharpston,
Kanzler: K. Malacek, Verwaltungsrat,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 16. Februar 2011,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
‐ der Ze Fu Fleischhandel GmbH, vertreten durch Rechtsanwalt D. Ehle,
‐ der Vion Trading GmbH, vertreten durch Rechtsanwälte K. Landry und G. Schwendinger,
‐ der Europäischen Kommission, vertreten durch G. von Rintelen und M. Vollkommer als Bevollmächtigte,
aufgrund des nach Anhörung der Generalanwältin ergangenen Beschlusses, ohne Schlussanträge über die Rechtssache zu entscheiden,
folgendes
Urteil
Rz. 1
Die Vorabentscheidungsersuchen betreffen die Auslegung von Art. 3 Abs. 1 und 3 der Verordnung (EG, Euratom) Nr. 2988/95 des Rates vom 18. Dezember 1995 über den Schutz der finanziellen Interessen der Europäischen Gemeinschaften (ABl. L 312, S. 1) sowie der Grundsätze der Verhältnismäßigkeit und der Rechtssicherheit.
Rz. 2
Diese Ersuchen ergehen im Rahmen von Rechtsstreitigkeiten zwischen der Ze Fu Fleischhandel GmbH sowie der Vion Trading GmbH (im Folgenden: Klägerinnen der Ausgangsverfahren) einerseits und dem Hauptzollamt Hamburg-Jonas (im Folgenden: Hauptzollamt) andererseits wegen der Rückforderung von Ausfuhrerstattungen.
Rechtlicher Rahmen
Unionsrecht
Rz. 3
Nach dem dritten Erwägungsgrund der Verordnung Nr. 2988/95 ist es „wichtig, in allen Bereichen Handlungen zum Nachteil der finanziellen Interessen der Gemeinschaften zu bekämpfen“.
Rz. 4
Im fünften Erwägungsgrund dieser Verordnung heißt es:
„Die Verhaltensweisen, die Unregelmäßigkeiten darstellen, sowie die verwaltungsrechtlichen Maßnahmen und die entsprechenden Sanktionen sind im Einklang mit dieser Verordnung in sektorbezogenen Regelungen vorgesehen.“
Rz. 5
Art. 1 der Verordnung bestimmt:
„(1) Zum Schutz der finanziellen Interessen der Europäischen Gemeinschaften wird eine Rahmenregelung für einheitliche Kontrollen sowie für verwaltungsrechtliche Maßn...