Entscheidungsstichwort (Thema)
Nacherhebung von Einfuhrabgaben, Nichtaufklärbarkeit der inhaltlichen Richtigkeit der Ursprungsbescheinigung, Beweislast
Leitsatz (amtlich)
Art. 220 Abs. 2 Buchst. b der Verordnung (EWG) Nr. 2913/92 des Rates vom 12. Oktober 1992 zur Festlegung des Zollkodex der Gemeinschaften in der durch die Verordnung (EG) Nr. 2700/2000 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. November 2000 geänderten Fassung ist dahin auszulegen, dass in Fällen, in denen die zuständige Behörde des Drittstaats bei einer nachträglichen Prüfung nicht überprüfen kann, ob das von ihr ausgestellte Ursprungszeugnis nach Formblatt A auf einer richtigen Darstellung der Fakten seitens des Ausführers beruht, weil Letzterer seine Produktion eingestellt hat, dem Abgabenschuldner die Beweislast dafür obliegt, dass dieses Zeugnis auf der Grundlage einer richtigen Darstellung der Fakten seitens des Ausführers beruht.
Normenkette
EWGV 2913/92 Art. 220 Abs. 2 Buchst. b
Beteiligte
Lagura Vermögensverwaltung |
Lagura Vermögensverwaltung GmbH |
Hauptzollamt Hamburg-Hafen |
Verfahrensgang
Tatbestand
„Zollkodex der Gemeinschaften ‐ Art. 220 Abs. 2 Buchst. b ‐ Nacherhebung von Einfuhrabgaben ‐ Vertrauensschutz ‐ Nichtaufklärbarkeit der inhaltlichen Richtigkeit einer Ursprungsbescheinigung ‐ Begriff der ‚Bescheinigung, die auf einer unrichtigen Darstellung der Fakten seitens des Ausführers beruht‘ ‐ Beweislast ‐ System allgemeiner Zollpräferenzen“
In der Rechtssache C-438/11
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Finanzgericht Hamburg (Deutschland) mit Entscheidung vom 22. Juni 2011, beim Gerichtshof eingegangen am 26. August 2011, in dem Verfahren
Lagura Vermögensverwaltung GmbH
gegen
Hauptzollamt Hamburg-Hafen
erlässt
DER GERICHTSHOF (Erste Kammer)
unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten A. Tizzano, der Richter A. Borg Barthet, M. Ilešič (Berichterstatter), M. Safjan sowie der Richterin M. Berger,
Generalanwalt: J. Mazák,
Kanzler: M. Aleksejev, Verwaltungsrat,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 5. Juli 2012,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
‐ der Lagura Vermögensverwaltung GmbH, vertreten durch Rechtsanwalt T. Lieber,
‐ der tschechischen Regierung, vertreten durch M. Smolek und J. Vláčil als Bevollmächtigte,
‐ der italienischen Regierung, vertreten durch G. Palmieri als Bevollmächtigte im Beistand von G. Albenzio, avvocato dello Stato,
‐ der Europäischen Kommission, vertreten durch L. Bouyon und B.-R. Killmann als Bevollmächtigte,
aufgrund des nach Anhörung des Generalanwalts ergangenen Beschlusses, ohne Schlussanträge über die Rechtssache zu entscheiden,
folgendes
Urteil
Rz. 1
Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 220 Abs. 2 Buchst. b der Verordnung (EWG) Nr. 2913/92 des Rates vom 12. Oktober 1992 zur Festlegung des Zollkodex der Gemeinschaften (ABl. L 302, S. 1) in der durch die Verordnung (EG) Nr. 2700/2000 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. November 2000 (ABl. L 311, S. 17) geänderten Fassung (im Folgenden: Zollkodex).
Rz. 2
Dieses Ersuchen ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen der deutschen Gesellschaft Lagura Vermögensverwaltung GmbH (im Folgenden: Lagura) und dem Hauptzollamt Hamburg-Hafen (im Folgenden: Hauptzollamt) über die Nacherhebung von Einfuhrabgaben, die von dieser Gesellschaft für die Einfuhr von Schuhen in die Europäische Union erhoben wurden.
Rechtlicher Rahmen
Zollkodex
Rz. 3
Der Zollkodex wurde durch die Verordnung (EG) Nr. 450/2008 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 23. April 2008 zur Festlegung des Zollkodex der Gemeinschaft (Modernisierter Zollkodex) (ABl. L 145, S. 1), von der einige Bestimmungen ab dem 24. Juni 2008 gelten, aufgehoben. In Anbetracht des Zeitpunkts des Sachverhalts im Ausgangsrechtsstreit ist auf diesen jedoch weiterhin der Zollkodex anwendbar.
Rz. 4
Art. 220 des Zollkodex bestimmte:
„(1) Ist der einer Zollschuld entsprechende Abgabenbetrag nicht … buchmäßig erfasst oder mit einem geringeren als dem gesetzlich geschuldeten Betrag buchmäßig erfasst worden, so hat die buchmäßige Erfassung des zu erhebenden Betrags oder des nachzuerhebenden Restbetrags innerhalb von zwei Tagen nach dem Tag zu erfolgen, an dem die Zollbehörden diesen Umstand feststellen und in der Lage sind, den gesetzlich geschuldeten Betrag zu berechnen sowie den Zollschuldner zu bestimmen (nachträgliche buchmäßige Erfassung). …
(2) … keine nachträgliche buchmäßige Erfassung [erfolgt], wenn
…
b) der gesetzlich geschuldete Abgabenbetrag aufgrund eines Irrtums der Zollbehörden nicht buchmäßig erfasst worden ist, sofern dieser Irrtum vom Zollschuldner nicht erkannt werden konnte und dieser gutgläubig gehandelt und alle geltenden Vorschriften über die Zollanmeldung eingehalten hat;
Wird der Präferenzstatus einer Ware im Rahmen eines Systems der administrativen Zusammenarbeit unter Beteiligung der Behörden eines Drittland...