Entscheidungsstichwort (Thema)
Steuerbefreiung
Normenkette
EGRL 112/2006 Art. 135 Abs. 1 Buchst. i; EUV Art. 4 Abs. 3
Beteiligte
État belge (SPF Finances) |
Verfahrensgang
Tribunal de première instance de Liège (Belgien) (Beschluss vom 30.01.2023; ABl. EU 2023, Nr. C 164/32) |
Tenor
1. Art. 135 Abs. 1 Buchst. i der Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom 28. November 2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem in Verbindung mit dem Grundsatz der steuerlichen Neutralität
ist dahin auszulegen, dass
er einer nationalen Regelung, die den Kauf von Lotterielosen und die Teilnahme an sonstigen offline angebotenen Glücksspielen mit Geldeinsatz einerseits und die Teilnahme an online angebotenen Glücksspielen mit Geldeinsatz, die keine Lotterien sind, andererseits unterschiedlich behandelt, indem sie Letztere von der für Erstere geltenden Mehrwertsteuerbefreiung ausschließt, nicht entgegensteht, sofern die objektiven Unterschiede zwischen diesen beiden Kategorien von Glücksspielen mit Geldeinsatz geeignet sind, die Entscheidung des Durchschnittsverbrauchers, die eine oder die andere Spielkategorie zu wählen, erheblich zu beeinflussen.
2. Der Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit, wie er in Art. 4 Abs. 3 EUV verankert ist, und der Grundsatz des Vorrangs des Unionsrechts gebieten es dem nationalen Gericht, nationale Bestimmungen, die für mit Art. 135 Abs. 1 Buchst. i der Richtlinie 2006/112 in Verbindung mit dem Grundsatz der steuerlichen Neutralität unvereinbar befunden wurden, unangewendet zu lassen, ohne dass hierbei das Vorliegen eines Urteils des nationalen Verfassungsgerichtshofs, mit dem die Wirkungen dieser nationalen Bestimmungen aufrechterhalten wurden, von Belang wäre.
3. Die Regeln des Unionsrechts über die Rückforderung rechtsgrundlos entrichteter Beträge sind dahin auszulegen, dass sie dem Steuerpflichtigen einen Anspruch auf Erstattung des Betrags der in einem Mitgliedstaat unter Verstoß gegen Art. 135 Abs. 1 Buchst. i der Richtlinie 2006/112 erhobenen Mehrwertsteuer verleihen, sofern diese Erstattung nicht zu einer ungerechtfertigten Bereicherung des Steuerpflichtigen führt.
Tatbestand
In der Rechtssache
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Tribunal de première instance de Liège (Gericht Erster Instanz Lüttich, Belgien) mit Entscheidung vom 30. Januar 2023, beim Gerichtshof eingegangen am 10. Februar 2023, in dem Verfahren
Chaudfontaine Loisirs SA
gegen
État belge (SPF Finances),
Beteiligter:
État belge (SPF Justice),
erlässt
DER GERICHTSHOF (Erste Kammer)
unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten A. Arabadjiev, des Vizepräsidenten des Gerichtshofs L. Bay Larsen (Berichterstatter), der Richter T. von Danwitz und A. Kumin sowie der Richterin I. Ziemele,
Generalanwältin: J. Kokott,
Kanzler: A. Calot Escobar,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
- der Chaudfontaine Loisirs SA, vertreten durch Y. Spiegl und E. van Nuffel d'Heynsbroeck, Avocats,
- der belgischen Regierung, vertreten durch S. Baeyens, P. Cottin und C. Pochet als Bevollmächtigte,
- der tschechischen Regierung, vertreten durch L. Halajová, M. Smolek und J. Vláčil als Bevollmächtigte,
- der portugiesischen Regierung, vertreten durch P. Barros da Costa und A. Silva Coelho als Bevollmächtigte,
- der Europäischen Kommission, vertreten durch A. Armenia und M. Herold als Bevollmächtigte,
nach Anhörung der Schlussanträge der Generalanwältin in der Sitzung vom 25. April 2024
folgendes
Urteil
Entscheidungsgründe
Rz. 1
Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 267 Abs. 3 AEUV, des Grundsatzes der steuerlichen Neutralität sowie von Art. 135 Abs. 1 Buchst. i der Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom 28. November 2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem (ABl. 2006, L 347, S. 1).
Rz. 2
Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen der Chaudfontaine Loisirs SA und dem belgischen Staat (FÖD Finanzen) (Föderaler Öffentlicher Dienst Finanzen, Belgien, im Folgenden: belgische Steuerverwaltung), über eine Entscheidung betreffend die für den Zeitraum vom 1. Juli 2016 bis zum 21. Mai 2018 geschuldete Mehrwertsteuer sowie hiermit in Zusammenhang stehende Geldbußen und Verzugszinsen.
Rechtlicher Rahmen
Unionsrecht
Rz. 3
Art. 135 Abs. 1 Buchst. i der Richtlinie 2006/112 sieht vor:
„Die Mitgliedstaaten befreien folgende Umsätze von der Steuer:
…
i) Wetten, Lotterien und sonstige Glücksspiele mit Geldeinsatz unter den Bedingungen und Beschränkungen, die von jedem Mitgliedstaat festgelegt werden”.
Belgisches Recht
Rz. 4
Art. 1 § 14 des Code de la taxe sur la valeur ajoutée (Moniteur belge, 17. Juli 1969, S. 7046) in der durch das Programmgesetz vom 1. Juli 2016 geänderten Fassung (im Folgenden: Mehrwertsteuergesetzbuch) sah vor:
„Für die Anwendung des vorliegenden Gesetzbuches gelten als:
‚Glücksspiele mit Geldeinsatz’:
- Spiele unter gleich welcher Bezeichnung, die Gelegenheit bieten, Geld- oder Sachpreise beziehungsweise -prämien zu gewinnen, wobei die Spieler weder zu Beg...