Entscheidungsstichwort (Thema)
Unterlassene Unterrichtung des Ausführers über Risiko von Täuschungshandlungen des Vertragspartners durch die Zollbehörde, Fall höherer Gewalt, Verpflichtung zur Rückzahlung von Ausfuhrerstattungen
Leitsatz (amtlich)
Die seitens der zuständigen nationalen Zollbehörden unterlassene Unterrichtung des Ausführers über das Risiko von Täuschungshandlungen seines Vertragspartners stellt keinen Fall höherer Gewalt im Sinne der Bestimmungen der Verordnung (EWG) Nr. 3665/87 der Kommission vom 27. November 1987 über gemeinsame Durchführungsvorschriften für Ausfuhrerstattungen bei landwirtschaftlichen Erzeugnissen in der durch die Verordnung (EG) Nr. 2945/94 der Kommission vom 2. Dezember 1994 geänderten Fassung, insbesondere ihres Art. 11 Abs. 1 Unterabs. 3 erster Gedankenstrich, dar. Eine solche Unterlassung kann zwar einen Ausnahmefall im Sinne von Art. 11 Abs. 1 Unterabs. 3 zweiter Gedankenstrich der Verordnung Nr. 3665/87 darstellen, doch kann sie den Ausführer nicht von seiner Verpflichtung entbinden, zu Unrecht erhaltene Erstattungen zurückzuzahlen, da er nur von den nach diesem Art. 11 zu entrichtenden Strafzuschlägen befreit wird.
Normenkette
EWGV 3665/87 Art. 11 Abs. 1
Beteiligte
Bureau d'intervention et de restitution belge (BIRB) |
Verfahrensgang
Tribunal de première instance Bruxelles (Urteil vom 09.02.2012; ABl. EU 2012, Nr. C 138/4) |
Tatbestand
„Vorabentscheidungsersuchen ‐ Landwirtschaft ‐ Gemeinsame Marktorganisation ‐ Verordnung (EWG) Nr. 3665/87 ‐ Ausfuhrerstattungen ‐ Umleitung der Ware, die für die Ausfuhr bestimmt ist ‐ Verpflichtung des Ausführers zur Rückzahlung ‐ Keine Mitteilung von Informationen durch die zuständigen Behörden über die Zuverlässigkeit des unter Betrugsverdacht stehenden Vertragspartners ‐ Kein Fall höherer Gewalt“
In der Rechtssache C-99/12
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Tribunal de première instance de Bruxelles (Belgien) mit Entscheidung vom 9. Februar 2012, beim Gerichtshof eingegangen am 24. Februar 2012, in dem Verfahren
Eurofit SA
gegen
Bureau d’intervention et de restitution belge (BIRB)
erlässt
DER GERICHTSHOF (Sechste Kammer)
unter Mitwirkung der Kammerpräsidentin M. Berger sowie der Richter E. Levits und J.-J. Kasel (Berichterstatter),
Generalanwältin: V. Trstenjak,
Kanzler: A. Calot Escobar,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
‐ der Eurofit SA, vertreten durch S. Woog, avocate,
‐ der belgischen Regierung, vertreten durch M. Jacobs und J.-C. Halleux als Bevollmächtigte im Beistand von B. De Moor und V. van Steenkiste, avocats,
‐ der Europäischen Kommission, vertreten durch B. Burggraaf und D. Triantafyllou als Bevollmächtigte,
aufgrund des nach Anhörung der Generalanwältin ergangenen Beschlusses, ohne Schlussanträge über die Rechtssache zu entscheiden,
folgendes
Urteil
Rz. 1
Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung des Begriffs der höheren Gewalt im Sinne der Verordnung (EWG) Nr. 3665/87 der Kommission vom 27. November 1987 über gemeinsame Durchführungsvorschriften für Ausfuhrerstattungen bei landwirtschaftlichen Erzeugnissen (ABl. L 351, S. 1) in der durch die Verordnung (EG) Nr. 2945/94 der Kommission vom 2. Dezember 1994 (ABl. L 310, S. 57) geänderten Fassung (im Folgenden: Verordnung Nr. 3665/87).
Rz. 2
Dieses Ersuchen ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen der Eurofit SA und dem Bureau d’intervention et de restitution belge (Belgische Interventions- und Erstattungsstelle, im Folgenden: BIRB) wegen der Rückforderung von Ausfuhrerstattungen, die an Eurofit aufgrund von gefälschten Papieren gezahlt worden waren.
Rechtlicher Rahmen
Rz. 3
Die Erwägungsgründe 1 und 2 der Verordnung Nr. 2945/94 lauteten:
„Nach der geltenden Gemeinschaftsregelung werden Ausfuhrerstattungen einzig und allein anhand objektiver Kriterien gewährt, die insbesondere Quantität, Art und Merkmale des Ausfuhrerzeugnisses sowie seine geografische Bestimmung betreffen. Da aufgrund der bisherigen Erfahrungen insbesondere zu Lasten des Gemeinschaftshaushalts gehende Unregelmäßigkeiten und Betrugsfälle stärker bekämpft werden sollten, müssen zu Unrecht gezahlte Beträge zurückgefordert und Sanktionen vorgesehen werden, welche die Ausführer veranlassen, das Gemeinschaftsrecht einzuhalten.
Damit die Ausfuhrerstattungen ordnungsgemäß gewährt werden, müssen Sanktionen unabhängig vom Anteil subjektiver Schuld verhängt werden. Von der Verhängung einer Sanktion sollte jedoch insbesondere dann abgesehen werden, wenn es sich um einen offensichtlichen, von der zuständigen Behörde anerkannten Irrtum handelt. Vorsatz ist jedoch stärker zu ahnden.“
Rz. 4
Die Verordnung Nr. 3665/87 sah die Möglichkeit der Gewährung von Ausfuhrerstattungen für die Marktteilnehmer vor, die landwirtschaftliche Erzeugnisse aus dem Gebiet der Europäischen Union ausführen.
Rz. 5
Art. 5 der Verordnung Nr. 3665/87 bestimmte:
„(1) Außer von der Voraussetzung, dass das Erzeugnis das Zollgebiet der Gemeinschaft verlassen...