Entscheidungsstichwort (Thema)
Vorlage zur Vorabentscheidung. Gemeinsames Mehrwertsteuersystem. Innergemeinschaftlicher Erwerb von Gegenständen. Erlangung der Befähigung, wie ein Eigentümer über einen Gegenstand zu verfügen. Kette von An- und Weiterverkäufen von Gegenständen mit einer einzigen innergemeinschaftlichen Beförderung. Möglichkeit, Entscheidungen zu treffen, die sich auf die rechtliche Situation des Gegenstands auswirken. Zuordnung der Beförderung. Beförderung im Verfahren der Steueraussetzung. Zeitliche Wirkung der Auslegungsurteile
Normenkette
EGRL 112/2006 Art. 20
Beteiligte
Odvolací finanční ředitelství |
Verfahrensgang
Krajský soud v Praze (Tschechische Republik) (Beschluss vom 06.06.2018; ABl. EU 2018, Nr. C 294/35) |
Tenor
1. Art. 20 der Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom 28. November 2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem ist dahin auszulegen, dass ein Steuerpflichtiger, der eine einzige innergemeinschaftliche Beförderung verbrauchsteuerpflichtiger Gegenstände im Verfahren der Steueraussetzung in der Absicht durchführt, diese Gegenstände für die Zwecke seiner wirtschaftlichen Tätigkeit zu erwerben, sobald sie im Bestimmungsmitgliedstaat in den freien Verkehr überführt worden sind, im Sinne dieser Bestimmung die Befähigung erlangt, wie ein Eigentümer über diese Gegenstände zu verfügen, sofern er die Möglichkeit hat, Entscheidungen zu treffen, die sich auf die rechtliche Situation der betreffenden Gegenstände auswirken, etwa die Entscheidung, die Gegenstände zu verkaufen.
Der Umstand, dass dieser Steuerpflichtige von vornherein die Absicht hatte, diese Gegenstände für die Zwecke seiner wirtschaftlichen Tätigkeit zu erwerben, sobald sie im Bestimmungsmitgliedstaat in den freien Verkehr überführt worden sind, muss vom nationalen Gericht im Rahmen der umfassenden Würdigung aller besonderen Umstände des Einzelfalls, mit dem es befasst ist, berücksichtigt werden, um zu bestimmen, welchem der aufeinanderfolgenden Erwerbe diese innergemeinschaftliche Beförderung zuzuordnen ist.
2. Das Unionsrecht steht dem entgegen, dass ein nationales Gericht, das mit einer Vorschrift des nationalen Steuerrechts befasst ist, durch die eine Bestimmung der Richtlinie 2006/112 umgesetzt wurde und die unterschiedlich ausgelegt werden kann, gestützt auf den nationalen Verfassungsgrundsatz in dubio mitius die für den Steuerpflichtigen günstigste Auslegung anwendet, selbst nachdem der Gerichtshof diese Auslegung für mit dem Unionsrecht unvereinbar erklärt hat.
Tatbestand
In der Rechtssache
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Krajský soud v Praze (Regionalgericht Prag, Tschechische Republik) mit Entscheidung vom 6. Juni 2018, beim Gerichtshof eingegangen am 18. Juni 2018, in dem Verfahren
Herst s.r.o.
gegen
Odvolací finanční ředitelství
erlässt
DER GERICHTSHOF (Vierte Kammer)
unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten M. Vilaras, der Richter S. Rodin und D. Šváby, der Richterin K. Jürimäe (Berichterstatterin) sowie des Richters N. Piçarra,
Generalanwältin: J. Kokott,
Kanzler: A. Calot Escobar,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
- der Herst s.r.o., vertreten durch J. Balada, advokát,
- der Odvolací finanční ředitelství, vertreten durch T. Rozehnal als Bevollmächtigten,
- der tschechischen Regierung, vertreten durch M. Smolek, J. Vláčil und O. Serdula als Bevollmächtigte,
- der Europäischen Kommission, vertreten durch M. Salyková und L. Lozano Palacios als Bevollmächtigte,
nach Anhörung der Schlussanträge der Generalanwältin in der Sitzung vom 3. Oktober 2019
folgendes
Urteil
Entscheidungsgründe
Rz. 1
Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft in erster Linie die Auslegung von Art. 20 der Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom 28. November 2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem (ABl. 2006, L 347, S. 1, im Folgenden: Mehrwertsteuerrichtlinie).
Rz. 2
Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen der Herst s.r.o. und der Odvolací finanční ředitelství (für Einsprüche zuständige Finanzdirektion, Tschechische Republik, im Folgenden: Finanzdirektion) wegen des Vorsteuerabzugs, den Herst im Zusammenhang mit dem Erwerb von Kraftstoffen geltend machte, die sie im Verfahren der Steueraussetzung aus verschiedenen Mitgliedstaaten in die Tschechische Republik beförderte.
Rechtlicher Rahmen
Unionsrecht
Rz. 3
Art. 2 Abs. 1 Buchst. a und b der Mehrwertsteuerrichtlinie sieht vor:
„(1) Der Mehrwertsteuer unterliegen folgende Umsätze:
- Lieferungen von Gegenständen, die ein Steuerpflichtiger als solcher im Gebiet eines Mitgliedstaats gegen Entgelt tätigt;
der innergemeinschaftliche Erwerb von Gegenständen im Gebiet eines Mitgliedstaats gegen Entgelt
i) durch einen Steuerpflichtigen, der als solcher handelt, oder durch eine nichtsteuerpflichtige juristische Person, wenn der Verkäufer ein Steuerpflichtiger ist, der als solcher handelt, für den die Mehrwertsteuerbefreiung für Kleinunternehmen gemäß den Artikeln 282 bis 292 nicht gilt und der nicht unter Artikel 33 oder 36 fäl...