Entscheidungsstichwort (Thema)

Vorlage zur Vorabentscheidung. Steuerrecht. Mehrwertsteuer. Recht auf Vorsteuerabzug. Grundsatz des Verbots von Betrug. Lieferkette. Versagung des Rechts auf Vorsteuerabzug bei Steuerhinterziehung. Steuerpflichtiger. Zweiter Erwerber eines Gegenstands. Hinterziehung, die einen Teil der beim ersten Erwerb geschuldeten Mehrwertsteuer betrifft. Umfang der Versagung des Rechts auf Vorsteuerabzug

 

Normenkette

EGRL 112/2006 Art. 167-168

 

Beteiligte

Finanzamt M

A

Finanzamt M

 

Verfahrensgang

FG Nürnberg (Beschluss vom 21.09.2021; Aktenzeichen 2 K 345/20; EFG 2021, 2096)

 

Tenor

1. Die Art. 167 und 168 der Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom 28. November 2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem in der durch die Richtlinie 2010/45/EU des Rates vom 13. Juli 2010 geänderten Fassung sind im Licht des Grundsatzes des Verbots von Betrug

dahin auszulegen, dass

dem zweiten Erwerber eines Gegenstands der Vorsteuerabzug versagt werden kann, weil er von einer vom ursprünglichen Verkäufer bei der ersten Veräußerung begangenen Mehrwertsteuerhinterziehung Kenntnis hatte oder hätte haben müssen, obwohl auch der erste Verkäufer Kenntnis von dieser Hinterziehung hatte.

2. Die Art. 167 und 168 der Richtlinie 2006/112/EG in der durch die Richtlinie 2010/45/EU geänderten Fassung sind im Licht des Grundsatzes des Verbots von Betrug

dahin auszulegen, dass

dem zweiten Erwerber eines Gegenstands, mit dem auf einer Umsatzstufe vor diesem Erwerb ein betrügerischer Umsatz bewirkt wurde, der nur einen Teil der Mehrwertsteuer betraf, die der Staat erheben darf, das Recht auf Vorsteuerabzug vollständig zu versagen ist, wenn er wusste oder hätte wissen müssen, dass der Erwerb mit einer Steuerhinterziehung in Zusammenhang stand.

 

Tatbestand

In der Rechtssache

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Finanzgericht Nürnberg (Deutschland) mit Entscheidung vom 21. September 2021, beim Gerichtshof eingegangen am 28. September 2021, in dem Verfahren

A

gegen

Finanzamt M

erlässt

DER GERICHTSHOF (Fünfte Kammer)

unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten E. Regan sowie der Richter D. Gratsias (Berichterstatter), M. Ilešič, I. Jarukaitis und Z. Csehi,

Generalanwalt: P. Pikamäe,

Kanzler: A. Calot Escobar,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

  • der deutschen Regierung, vertreten durch J. Möller und R. Kanitz als Bevollmächtigte,
  • der tschechischen Regierung, vertreten durch O. Serdula, M. Smolek, und J. Vláčil als Bevollmächtigte,
  • der Europäischen Kommission, vertreten durch R. Pethke und V. Uher als Bevollmächtigte,

aufgrund des nach Anhörung des Generalanwalts ergangenen Beschlusses, ohne Schlussanträge über die Rechtssache zu entscheiden,

folgendes

Urteil

 

Entscheidungsgründe

Rz. 1

Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung der Art. 167, 168 und 178 der Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom 28. November 2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem (ABl. 2006, L 347, S. 1) in der durch die Richtlinie 2010/45/EU des Rates vom 13. Juli 2010 (ABl. 2010, L 189, S. 1) geänderten Fassung (im Folgenden: Richtlinie 2006/112).

Rz. 2

Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen A und dem Finanzamt M (Deutschland) (im Folgenden: Finanzverwaltung) wegen der Versagung des Vorsteuerabzugs für den Erwerb eines Fahrzeugs im Steuerjahr 2011.

Rechtlicher Rahmen

Unionsrecht

Rz. 3

Gemäß Art. 14 Abs. 2 Buchst. c in Titel IV („Steuerbarer Umsatz”) Kapitel 1 („Lieferung von Gegenständen”) der Richtlinie 2006/112 gilt die Übertragung eines Gegenstands auf Grund eines Vertrags über eine Einkaufs- oder Verkaufskommission als Lieferung eines Gegenstands.

Rz. 4

Art. 167 in Titel X („Vorsteuerabzug”) Kapitel 1 („Entstehung und Umfang des Rechts auf Vorsteuerabzug”) dieser Richtlinie bestimmt:

„Das Recht auf Vorsteuerabzug entsteht, wenn der Anspruch auf die abziehbare Steuer entsteht.”

Rz. 5

Art. 168 in diesem Kapitel 1 sieht vor:

„Soweit die Gegenstände und Dienstleistungen für die Zwecke seiner besteuerten Umsätze verwendet werden, ist der Steuerpflichtige berechtigt, in dem Mitgliedstaat, in dem er diese Umsätze bewirkt, vom Betrag der von ihm geschuldeten Steuer folgende Beträge abzuziehen:

a) die in diesem Mitgliedstaat geschuldete oder entrichtete Mehrwertsteuer für Gegenstände und Dienstleistungen, die ihm von einem anderen Steuerpflichtigen geliefert bzw. erbracht wurden oder werden;

…”

Rz. 6

Art. 178 in Titel X Kapitel 4 („Einzelheiten der Ausübung des Rechts auf Vorsteuerabzug”) dieser Richtlinie bestimmt:

„Um das Recht auf Vorsteuerabzug ausüben zu können, muss der Steuerpflichtige folgende Bedingungen erfüllen:

a) für den Vorsteuerabzug nach Artikel 168 Buchstabe a in Bezug auf die Lieferung von Gegenständen oder das Erbringen von Dienstleistungen muss er eine gemäß Titel XI Kapitel 3 Abschnitte 3 bis 6 ausgestellte Rechnung besitzen;

…”

Rz. 7

Art. 203 in Titel XI („Pflichten der Steuerpflichtigen und bestimmter nichtsteuerpflichtiger Personen”) Kapitel 1 („Zahlungspflicht”) der Richtlinie 2006/112 lau...

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