Entscheidungsstichwort (Thema)
Gleichbehandlungsgrundsatz, Grundrechtecharta, Registrierung als Unternehmer, Sicherheitsleistung bei Registrierung für Mehrwertsteuerzwecke, Früheres Fehlverhalten eines Geschäftsführers
Leitsatz (amtlich)
Art. 273 der Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom 28. November 2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem und Art. 16 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union sind dahin auszulegen, dass sie es nicht verwehren, dass die Steuerverwaltung anlässlich der Mehrwertsteuerregistrierung eines Steuerpflichtigen, dessen Geschäftsführer zuvor Geschäftsführer oder Gesellschafter einer anderen juristischen Person war, die ihren steuerlichen Verpflichtungen nicht nachgekommen ist, diesem Steuerpflichtigen die Leistung einer Sicherheit auferlegt, deren Höhe bis zu 500 000 Euro betragen kann, sofern die von diesem Steuerpflichtigen geforderte Sicherheit nicht über das hinausgeht, was erforderlich ist, um die in Art. 273 genannten Ziele zu erreichen, was zu prüfen Sache des vorlegenden Gerichts ist.
Der Grundsatz der Gleichbehandlung ist dahin auszulegen, dass er nicht dem entgegensteht, dass die Steuerverwaltung von einem neuen Steuerpflichtigen anlässlich seiner Mehrwertsteuerregistrierung verlangt, dass er aufgrund seiner Verflechtung mit einer anderen juristischen Person, die Steuerrückstände hat, eine solche Sicherheit leistet.
Normenkette
EGRL 112/2006 Art. 273
Beteiligte
Financné riaditelstvo Slovenskej republiky |
Verfahrensgang
Najvyssí súd Slovenskej (Beschluss vom 29.09.2016; ABl. EU 2017, Nr. C 22/6) |
Tatbestand
„Vorlage zur Vorabentscheidung ‐ Mehrwertsteuer ‐ Richtlinie 2006/112/EG ‐ Eintragung in das Verzeichnis der Mehrwertsteuerpflichtigen ‐ Nationale Regelung, die die Leistung einer Sicherheit vorschreibt ‐ Betrugsbekämpfung ‐ Charta der Grundrechte der Europäischen Union ‐ Unternehmerische Freiheit ‐ Diskriminierungsverbot ‐ Grundsatz ne bis in idem ‐ Rückwirkungsverbot"
In der Rechtssache C-534/16
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Najvyšší súd Slovenskej republiky (Oberster Gerichtshof der Slowakischen Republik) mit Entscheidung vom 29. September 2016, beim Gerichtshof eingegangen am 20. Oktober 2016, in dem Verfahren
Finančné riaditelstvo Slovenskej republiky
gegen
BB construct s. r. o.
erlässt
DER GERICHTSHOF (Neunte Kammer)
unter Mitwirkung des Richters E. Juhász in Wahrnehmung der Aufgaben des Kammerpräsidenten, der Richterin K. Jürimäe (Berichterstatterin) und des Richters C. Lycourgos,
Generalanwalt: M. Szpunar,
Kanzler: A. Calot Escobar,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
‐ des Finančné riaditelstvo Slovenskej republiky, vertreten durch F. Imrecze als Bevollmächtigten,
‐ der BB construct s. r. o., vertreten durch P. Ondrášiková, advokátka,
‐ der slowakischen Regierung, vertreten durch B. Ricziova als Bevollmächtigte,
‐ der Europäischen Kommission, vertreten durch L. Lozano Palacios und A. Tokár als Bevollmächtigte,
aufgrund des nach Anhörung des Generalanwalts ergangenen Beschlusses, ohne Schlussanträge über die Rechtssache zu entscheiden,
folgendes
Urteil
Rz. 1
Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 273 der Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom 28. November 2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem (ABl. 2006, L 347, S. 1, im Folgenden: Mehrwertsteuerrichtlinie) sowie des Begriffs „unternehmerische Freiheit“, des Grundsatzes der Gleichbehandlung, des Grundsatzes ne bis in idem und des Verbots der Rückwirkung im Zusammenhang mit Straftaten und Strafen, die in der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta) verankert sind.
Rz. 2
Dieses Ersuchen ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen dem Finančné riaditelstvo Slovenskej republiky (Finanzdirektion der Slowakischen Republik, im Folgenden: Finanzdirektion) und der BB construct s. r. o. wegen einer Sicherheit, die von Letzterer anlässlich ihrer mehrwertsteuerlichen Registrierung gefordert wurde.
Rechtlicher Rahmen
Unionsrecht
Rz. 3
Art. 273 Abs. 1 der Mehrwertsteuerrichtlinie bestimmt:
„Die Mitgliedstaaten können vorbehaltlich der Gleichbehandlung der von Steuerpflichtigen bewirkten Inlandsumsätze und innergemeinschaftlichen Umsätze weitere Pflichten vorsehen, die sie für erforderlich erachten, um eine genaue Erhebung der Steuer sicherzustellen und um Steuerhinterziehung zu vermeiden, sofern diese Pflichten im Handelsverkehr zwischen den Mitgliedstaaten nicht zu Formalitäten beim Grenzübertritt führen.“
Slowakisches Recht
Rz. 4
§ 4 Abs. 1 Satz 1 des Gesetzes Nr. 222/2004 über die Mehrwertsteuer in seiner auf den Ausgangsrechtsstreit anwendbaren Fassung (im Folgenden: Mehrwertsteuergesetz) sieht eine Registrierungspflicht für Steuerpflichtige vor und ist wie folgt gefasst:
„Die steuerpflichtige Person, die ihren Sitz, Geschäftssitz oder ihre Niederlassung im Inland hat … und die für höchstens 12 vorausgegangene aufeinanderfolgende Kalendermonate einen Umsatz von 49 ...