Entscheidungsstichwort (Thema)
Gleichbehadlungsgebot, Lohnsteuersatz bei Gebietsfremden, die nicht der inländischen Sozialversicherung unterliegen
Leitsatz (amtlich)
1. Ein Angehöriger eines Mitgliedstaats, der eine selbständige Erwerbstätigkeit in einem anderen Mitgliedstaat, in dem er auch wohnt, ausübt, kann sich gegenüber seinem Herkunftsstaat, in dessen Gebiet er eine andere selbständige Erwerbstätigkeit ausübt, auf die Bestimmungen des Artikels 52 EG-Vertrag berufen, wenn er sich aufgrund der Ausübung einer wirtschaftlichen Tätigkeit in einem anderen Mitgliedstaat als seinem Herkunftsstaat diesem gegenüber in einer Lage befindet, die mit derjenigen anderer Personen vergleichbar ist, die sich gegenüber dem Aufnahmestaat auf die durch den Vertrag garantierten Rechte und Freiheiten berufen können.
2. Artikel 52 des Vertrages ist dahin auszulegen, daß er es einem Mitgliedstaat verwehrt, auf einen Angehörigen eines Mitgliedstaats, der eine selbständige Erwerbstätigkeit im Gebiet dieses Staates und daneben eine andere selbständige Erwerbstätigkeit in einem anderen Mitgliedstaat, in dem er auch wohnt, ausübt, einen Einkommensteuersatz anzuwenden, der höher ist als derjenige, der für Gebietsansässige gilt, die die gleiche Tätigkeit ausüben, wenn kein objektiver Unterschied in der Situation dieser Steuerpflichtigen und derjenigen der gebietsansässigen Steuerpflichtigen und der diesen gleichgestellten Personen besteht, der geeignet wäre, eine solche Ungleichbehandlung zu rechtfertigen.
3. Artikel 52 des Vertrages verwehrt es einem Mitgliedstaat, durch einen erhöhten Einkommensteuersatz der Tatsache Rechnung zu tragen, daß der Steuerpflichtige aufgrund der für die Bestimmung der anzuwendenden sozialrechtlichen Vorschriften geltenden Vorschriften der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 des Rates vom 14. Juni 1971 zur Anwendung der Systeme der sozialen Sicherheit auf Arbeitnehmer und deren Familien, die innerhalb der Gemeinschaft zu- und abwandern, nicht der Beitragspflicht im nationalen Sozialversicherungssystem unterliegt. Der sich ebenfalls aus der Verordnung Nr. 1408/71 ergebende Umstand, daß der Steuerpflichtige dem System der sozialen Sicherheit seines Wohnstaats angeschlossen ist, ist insoweit unerheblich.
Beteiligte
Staatssecretaris van Financiën |
Verfahrensgang
Tatbestand
Artikel 52 EG-Vertrag - Gleichbehandlungspflicht - Besteuerung des Einkommens von Gebietsfremden
Rechtssache C-107/94
P. H. Asscher
gegen
Staatssecretaris van Financiën.
Ersuchen um Vorabentscheidung: Hoge Raad - Niederlande.
1 Der Hoge Raad der Nederlanden hat mit Urteil vom 23. März 1994, beim Gerichtshof eingegangen am 30. März 1994, gemäß Artikel 177 EG-Vertrag fünf Fragen nach der Auslegung des Artikels 48 EWG-Vertrag, nunmehr EG-Vertrag, zur Vorabentscheidung vorgelegt.
2 Diese Fragen stellen sich in einem Rechtsstreit zwischen dem Staatssecretaris van Financiën und P. H. Asscher, einem in den Niederlanden arbeitenden, dort jedoch nicht wohnenden niederländischen Staatsangehörigen, über die Anwendung eines Lohnsteuersatzes auf Herrn Asscher, der höher ist als derjenige, der für in den Niederlanden ansässige Steuerpflichtige oder diesen gleichgestellte Personen, die dort die gleiche Tätigkeit ausüben, gilt.
3 In den Niederlanden ist die direkte Besteuerung natürlicher Personen in der Wet op de inkomstenbelasting (Einkommensteuergesetz) vom 16. Dezember 1964 (Staatsblad, 519) und der Wet op de loonbelasting (Lohnsteuergesetz) vom 18. Dezember 1964 (Staatsblad, 521) geregelt, die im Jahr 1989 einer Reform unterzogen wurden (geänderte Fassungen abgedruckt im Staatsblad 1990, 103 und 104).
4 Mit den Gesetzen vom 27. und 28. April 1989 (Staatsblad 122, 123, 129 und 611) wurde sowohl für die Einkommensteuer als auch für die Lohnsteuer mit Wirkung vom 1. Januar 1990 eine kombinierte Erhebung der Steuer und der Sozialversicherungsbeiträge eingeführt. Die Erhebung erfolgt seither nach einer einheitlichen Bemessungsgrundlage: Das zu versteuernde Einkommen und das Einkommen, das als Bemessungsgrundlage für die Sozialversicherungsbeiträge dient, entsprechen einander, so daß der steuerfreie und der beitragsfreie Betrag (d. h. der Grundfreibetrag) identisch sind.
5 Der aus drei Tranchen bestehende Steuertarif ist in den Artikeln 20a und 20b des Lohnsteuergesetzes (und entsprechend in den Artikeln 53a und 53b des Einkommensteuergesetzes) niedergelegt, die nur in bezug auf die erste Tranche des zu versteuernden Betrages unterschiedliche Sätze vorsehen. Im Rahmen des vor der Steuerrechtsreform bestehenden Tarifs galt dagegen für Steuerpflichtige mit Lohn- oder Gehaltseinkünften aus inländischer Quelle in den Niederlanden in der ersten Tranche ein einheitlicher Satz von 14 %.
6 Artikel 20a sieht einen Steuertarif für die in den Niederlanden wohnenden Steuerpflichtigen und die diesen gleichgestellten Personen vor. Eine Gleichstellung erfolgt, wenn ein gebietsfremder Steuerpflichtiger nachweist, daß sein Welteinkommen vollständi...