Entscheidungsstichwort (Thema)
Vorlage zur Vorabentscheidung. Steuerrecht. Gemeinsames Mehrwertsteuersystem. Ort der steuerlichen Anknüpfung. Übertragung von Treibhausgasemissionszertifikaten. Empfänger, der im Rahmen einer Leistungskette an einer Mehrwertsteuerhinterziehung beteiligt ist. Steuerpflichtiger, der von diesem Betrug wusste oder hätte wissen müssen
Normenkette
EGRL 112/2006 Art. 44
Beteiligte
Climate Corporation Emissions Trading |
Climate Corporation Emissions Trading GmbH |
Verfahrensgang
Bundesfinanzgericht (Österreich) (Beschluss vom 11.10.2021; Aktenzeichen RE/7L00003/202L; ABl. EU 2022, Nr. C 51/20) |
Tenor
Die Bestimmungen der Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom 28. November 2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem in der durch die Richtlinie 2008/8/EG des Rates vom 12. Februar 2008 geänderten Fassung
sind dahinauszulegen, dass
sie dem entgegenstehen, dass die Behörden eines Mitgliedstaats bei einer Dienstleistung, die ein in diesem Mitgliedstaat ansässiger Steuerpflichtiger an einen in einem anderen Mitgliedstaat ansässigen Steuerpflichtigen erbringt, davon ausgehen, dass der Ort dieser Leistung, der gemäß Art. 44 der Richtlinie 2006/112 in der durch die Richtlinie 2008/8 geänderten Fassung in diesem anderen Mitgliedstaat liegt, dennoch als im ersten Mitgliedstaat liegend anzusehen ist, wenn der Dienstleistungserbringer wusste oder hätte wissen müssen, dass er sich durch diese Dienstleistung an einer durch den Empfänger dieser Dienstleistung im Rahmen einer Leistungskette begangenen Mehrwertsteuerhinterziehung beteiligt hat.
Tatbestand
In der Rechtssache
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Bundesfinanzgericht (Österreich) mit Entscheidung vom 11. Oktober 2021, beim Gerichtshof eingegangen am 20. Oktober 2021, in dem Verfahren
Climate Corporation Emissions Trading GmbH
gegen
Finanzamt Österreich
erlässt
DER GERICHTSHOF (Achte Kammer)
unter Mitwirkung der Präsidentin der Dritten Kammer K. Jürimäe (Berichterstatterin) in Wahrnehmung der Aufgaben des Präsidenten der Achten Kammer sowie der Richter N. Jääskinen und M. Gavalec,
Generalanwalt: M. Szpunar,
Kanzler: A. Calot Escobar,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
- der Climate Corporation Emissions Trading GmbH, vertreten durch Rechtsanwalt W. Standfest,
- der Europäischen Kommission, vertreten durch A. Armenia und B.-R. Killmann als Bevollmächtigte,
aufgrund des nach Anhörung des Generalanwalts ergangenen Beschlusses, ohne Schlussanträge über die Rechtssache zu entscheiden,
folgendes
Urteil
Entscheidungsgründe
Rz. 1
Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung der Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom 28. November 2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem (ABl. 2006, L 347, S. 1) in der durch die Richtlinie 2008/8/EG des Rates vom 12. Februar 2008 (ABl. 2008, L 44, S. 11) geänderten Fassung (im Folgenden: Mehrwertsteuerrichtlinie).
Rz. 2
Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen der Climate Corporation Emissions Trading GmbH (im Folgenden: Climate Corporation) und dem Finanzamt Österreich (Österreich) über die Frage, ob Umsätze aus einer Übertragung von Treibhausgasemissionszertifikaten der Mehrwertsteuer unterliegen.
Rechtlicher Rahmen
Unionsrecht
Rz. 3
In Art. 2 Abs. 1 der Mehrwertsteuerrichtlinie heißt es:
„Der Mehrwertsteuer unterliegen folgende Umsätze:
…
b) der innergemeinschaftliche Erwerb von Gegenständen im Gebiet eines Mitgliedstaats gegen Entgelt
…
c) Dienstleistungen, die ein Steuerpflichtiger als solcher im Gebiet eines Mitgliedstaats gegen Entgelt erbringt;
…”
Rz. 4
In Titel V („Ort des steuerbaren Umsatzes”) Kapitel 3 („Ort der Dienstleistung”) dieser Richtlinie bestimmt Art. 44:
„Als Ort einer Dienstleistung an einen Steuerpflichtigen, der als solcher handelt, gilt der Ort, an dem dieser Steuerpflichtige den Sitz seiner wirtschaftlichen Tätigkeit hat. Werden diese Dienstleistungen jedoch an eine feste Niederlassung des Steuerpflichtigen, die an einem anderen Ort als dem des Sitzes seiner wirtschaftlichen Tätigkeit gelegen ist, erbracht, so gilt als Ort dieser Dienstleistungen der Sitz der festen Niederlassung. In Ermangelung eines solchen Sitzes oder einer solchen festen Niederlassung gilt als Ort der Dienstleistung der Wohnsitz oder der gewöhnliche Aufenthaltsort des steuerpflichtigen Dienstleistungsempfängers.”
Rz. 5
Dieser Art. 44 geht auf die Richtlinie 2008/8 zurück, mit der die Richtlinie 2006/112 im Hinblick auf den Ort der Dienstleistung geändert wurde. Die Erwägungsgründe 3 und 4 der Richtlinie 2008/8 lauten wie folgt:
„(3) Alle Dienstleistungen sollten grundsätzlich an dem Ort besteuert werden, an dem der tatsächliche Verbrauch erfolgt. Allerdings wären auch bei einer entsprechenden Änderung dieser Grundregel für die Bestimmung des Ortes der Dienstleistung sowohl aus verwaltungstechnischen als auch aus politischen Gründen noch gewisse Ausnahmen davon erforderlich.
(4) Bei Dienstleistungen an Steuerpflichtige sollte die Grundregel f...