Entscheidungsstichwort (Thema)
Vorlage zur Vorabentscheidung. Steuerrecht. Gemeinsames Mehrwertsteuersystem. Regelung über die Mehrwertsteuerfreigrenze für Kleinunternehmer. Missbräuchliche Praxis durch Gründung einer neuen Gesellschaft
Normenkette
EGRL 112/2006 Art. 287 Nr. 19
Beteiligte
Ministarstvo financija Republike Hrvatske |
Verfahrensgang
Upravni sud u Zagrebu (Verwaltungsgericht Zagreb) (Kroatien) (Beschluss vom 09.03.2023; ABl. EU 2023, Nr. C 179/18) |
Tenor
Die Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom 28. November 2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem in der durch die Richtlinie (EU) 2016/856 des Rates vom 25. Mai 2016 geänderten Fassung ist im Licht des Grundsatzes des Verbots der missbräuchlichen Praktiken dahin auszulegen, dass wenn feststeht, dass die Gründung einer Gesellschaft eine missbräuchliche Praxis darstellt, mit der bezweckt wird, weiterhin in den Genuss der Regelung über die Mehrwertsteuerfreigrenze gemäß Art. 287 Nr. 19 dieser Richtlinie 2006/112 für eine Tätigkeit zu kommen, die zuvor im Rahmen dieser Regelung von einer anderen Gesellschaft ausgeübt wurde, diese Richtlinie 2006/112 verlangt, dass die so gegründete Gesellschaft diese Regelung nicht in Anspruch nehmen kann, auch wenn es in der nationalen Rechtsordnung keine spezifischen Bestimmungen gibt, in denen das Verbot solch missbräuchlicher Praktiken verankert ist.
Tatbestand
In der Rechtssache
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Upravni sud u Zagrebu (Verwaltungsgericht Zagreb, Kroatien) mit Entscheidung vom 9. März 2023, beim Gerichtshof eingegangen am 20. März 2023, in dem Verfahren
UP CAFFE d.o.o.
gegen
Ministarstvo financija Republike Hrvatske
erlässt
DER GERICHTSHOF (Vierte Kammer)
unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten C. Lycourgos sowie der Richterin O. Spineanu-Matei, der Richter J.-C. Bonichot (Berichterstatter) und S. Rodin sowie der Richterin L. S. Rossi,
Generalanwältin: J. Kokott,
Kanzler: A. Calot Escobar,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
- der UP CAFFE d.o.o., vertreten durch D. Galić, Odvjetnica,
- der kroatischen Regierung, vertreten durch G. Vidović Mesarek als Bevollmächtigte,
- der Europäischen Kommission, vertreten durch J. Jokubauskaite und M. Mataija als Bevollmächtigte,
nach Anhörung der Schlussanträge der Generalanwältin in der Sitzung vom 16. Mai 2024
folgendes
Urteil
Entscheidungsgründe
Rz. 1
Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung der Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom 28. November 2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem (ABl. 2006, L 347, S. 1) in der durch die Richtlinie (EU) 2016/856 des Rates vom 25. Mai 2016 (ABl. 2016, L 142, S. 12) geänderten Fassung (im Folgenden: Mehrwertsteuerrichtlinie) und den Grundsatz des Verbots der missbräuchlichen Praktiken.
Rz. 2
Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen der UP CAFFE d.o.o., einer kroatischen Gesellschaft, und dem Ministarstvo financija Republike Hrvatske (Finanzministerium der Republik Kroatien) wegen eines Bescheids, mit dem Letzteres von UP CAFFE die Zahlung eines Mehrwertsteuerbetrags verlangt.
Rechtlicher Rahmen
Unionsrecht
Rz. 3
Art. 285 Abs. 1 der Mehrwertsteuerrichtlinie sieht vor:
„Mitgliedstaaten, die von der Möglichkeit nach Artikel 14 der [Zweiten] Richtlinie 67/228/EWG [des Rates vom 11. April 1967 zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Umsatzsteuern – Struktur und Anwendungsmodalitäten des gemeinsamen Mehrwertsteuersystems (ABl. 1967, 71, S. 1303)] keinen Gebrauch gemacht haben, können Steuerpflichtigen mit einem Jahresumsatz von höchstens 5 000 [Euro] oder dem Gegenwert dieses Betrags in Landeswährung eine Steuerbefreiung gewähren.”
Rz. 4
In Art. 287 der Mehrwertsteuerrichtlinie heißt es:
„Mitgliedstaaten, die nach dem 1. Januar 1978 beigetreten sind, können Steuerpflichtigen eine Steuerbefreiung gewähren, wenn ihr Jahresumsatz den in Landeswährung ausgedrückten Gegenwert der folgenden Beträge nicht übersteigt, wobei der Umrechnungskurs am Tag des Beitritts zugrunde zu legen ist:
…
19. … Kroatien: … 35 000 [Euro]”.
Rz. 5
Art. 1 des Durchführungsbeschlusses (EU) 2017/1768 des Rates vom 25. September 2017 zur Ermächtigung der Republik Kroatien, eine von Artikel 287 der [Mehrwertsteuerrichtlinie] abweichende Sondermaßnahme einzuführen (ABl. 2017, L 250, S. 71) bestimmt:
„Abweichend von Artikel 287 Nummer 19 der [Mehrwertsteuerrichtlinie] wird Kroatien ermächtigt, Steuerpflichtigen, deren Jahresumsatz den in Landeswährung ausgedrückten Gegenwert von 45 000 [Euro] zu dem am Beitrittstag geltenden Umrechnungskurs nicht übersteigt, eine Mehrwertsteuerbefreiung zu gewähren.”
Rz. 6
Nach Art. 2 Abs. 2 des Durchführungsbeschlusses 2017/1768 gilt dieser Beschluss vom 1. Januar 2018 bis zum 31. Dezember 2020 oder bis zu dem Tag, an dem eine Richtlinie zur Änderung der Art. 281 bis 294 der Mehrwertsteuerrichtlinie in Kraft tritt, je nachdem, welcher Zeitpunkt früher liegt.
Kroatisches Recht
Rz. 7
Art. 9 („Pflicht, na...