Entscheidungsstichwort (Thema)
Zusammenveranlagung von Ehegatten, Zusammenveranlagung bei Einkünfteerzielung in Deutschland und Wohnsitz in der Schweiz, Selbstständige Grenzgänger, DBA Schweiz
Leitsatz (amtlich)
Art. 1 Buchst. a des zwischen der Europäischen Gemeinschaft und ihren Mitgliedstaaten einerseits und der Schweizerischen Eidgenossenschaft andererseits geschlossenen Abkommens über die Freizügigkeit, unterzeichnet in Luxemburg am 21. Juni 1999, sowie die Art. 9 Abs. 2, 13 Abs. 1 und 15 Abs. 2 des Anhangs I dieses Abkommens sind dahin auszulegen, dass sie der Regelung eines Mitgliedstaats entgegenstehen, nach der Eheleuten, die Staatsangehörige dieses Staates sind und mit ihren gesamten steuerpflichtigen Einkünften der Besteuerung in diesem Staat unterliegen, die in dieser Regelung vorgesehene Zusammenveranlagung unter Berücksichtigung des Splitting-Verfahrens allein deshalb verweigert wird, weil ihr Wohnsitz im Hoheitsgebiet der Schweizerischen Eidgenossenschaft liegt.
Normenkette
Freizügigkeitsabkommen EG-Schweiz Art. 1; Freizügigkeitsabkommen EG-Schweiz Anhang I Art. 9 Abs. 2, Art. 13, 15 Abs. 2
Beteiligte
Verfahrensgang
Tatbestand
„Abkommen zwischen der Europäischen Gemeinschaft und ihren Mitgliedstaaten einerseits und der Schweizerischen Eidgenossenschaft andererseits über die Freizügigkeit ‐ Gleichbehandlung ‐ Selbständige Grenzgänger ‐ Staatsangehörige eines Mitgliedstaats der Union ‐ Erzielung von Einkünften aus Erwerbstätigkeit in diesem Mitgliedstaat ‐ Verlegung des Wohnsitzes in die Schweiz ‐ Versagung einer steuerlichen Vergünstigung in diesem Mitgliedstaat wegen Verlegung des Wohnsitzes“
In der Rechtssache C-425/11
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen gemäß Art. 267 AEUV, eingereicht vom Finanzgericht Baden-Württemberg (Deutschland) mit Entscheidung vom 7. Juli 2011, beim Gerichtshof eingegangen am 16. August 2011, in dem Verfahren
Katja Ettwein
gegen
Finanzamt Konstanz
erlässt
DER GERICHTSHOF (Dritte Kammer)
unter Mitwirkung der Richterin R. Silva de Lapuerta in Wahrnehmung der Aufgaben des Präsidenten der Dritten Kammer sowie der Richter K. Lenaerts, E. Juhász (Berichterstatter), T. von Danwitz und D. Šváby,
Generalanwalt: N. Jääskinen,
Kanzler: V. Tourrès, Verwaltungsrat,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 4. Juli 2012,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
‐ von Frau Ettwein, vertreten durch T. Picker, Steuerberater,
‐ des Finanzamts Konstanz, vertreten durch N. Rogall als Bevollmächtigte,
‐ der deutschen Regierung, vertreten durch T. Henze, A. Wiedmann und K. Petersen als Bevollmächtigte,
‐ der spanischen Regierung, vertreten durch A. Rubio González als Bevollmächtigten,
‐ der Europäischen Kommission, vertreten durch W. Mölls und T. Scharf als Bevollmächtigte,
nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 18. Oktober 2012
folgendes
Urteil
Rz. 1
Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung der einschlägigen Bestimmungen des zwischen der Europäischen Gemeinschaft und ihren Mitgliedstaaten einerseits und der Schweizerischen Eidgenossenschaft andererseits geschlossenen Abkommens über die Freizügigkeit, unterzeichnet in Luxemburg am 21. Juni 1999 (ABl. 2002, L 114, S. 6, im Folgenden: Abkommen oder auch: Abkommen EG‐Schweiz).
Rz. 2
Dieses Ersuchen ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen Frau Ettwein, einer deutschen Staatsangehörigen, und dem Finanzamt Konstanz wegen dessen Weigerung, ihr und ihrem Ehemann, der ebenfalls die deutsche Staatsangehörigkeit besitzt (im Folgenden: Eheleute Ettwein), eine im deutschen Recht im Fall der Zusammenveranlagung von Eheleuten vorgesehene steuerliche Vergünstigung zu gewähren, weil sie ihren Wohnsitz in die Schweiz verlegt haben.
Rechtlicher Rahmen
Das Abkommen
Rz. 3
Nach dem Wortlaut des zweiten Satzes der Präambel des Abkommens sind die Vertragsparteien „entschlossen, [die] Freizügigkeit zwischen ihnen auf der Grundlage der in der Europäischen Gemeinschaft geltenden Bestimmungen zu verwirklichen“.
Rz. 4
Das Ziel des Abkommens besteht nach seinem Art. 1 Buchst. a und d insbesondere darin, zugunsten der Staatsangehörigen der Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaft und der Schweizerischen Eidgenossenschaft die Einräumung eines Rechts auf Einreise, Aufenthalt, Zugang zu einer unselbständigen Erwerbstätigkeit und Niederlassung als Selbständiger sowie des Rechts auf Verbleib im Hoheitsgebiet der Vertragsparteien und die Einräumung der gleichen Lebens-, Beschäftigungs- und Arbeitsbedingungen wie für Inländer zu gewährleisten.
Rz. 5
Art. 2 („Nichtdiskriminierung“) bestimmt:
„Die Staatsangehörigen einer Vertragspartei, die sich rechtmäßig im Hoheitsgebiet einer anderen Vertragspartei aufhalten, werden bei der Anwendung dieses Abkommens gemäß den Anhängen I, II und III nicht aufgrund ihrer Staatsangehörigkeit diskriminiert.“
Rz. 6
Art. 4 („Recht auf Aufenthalt u...