Entscheidungsstichwort (Thema)
Verbot der Erhebung von Notargebühren für die Beurkundung der Übertragung von Geschäftsanteilen an einer Gesellschaft
Leitsatz (amtlich)
Art. 10 Buchst. c der Richtlinie 69/335/EWG des Rates vom 17. Juli 1969 betreffend die indirekten Steuern auf die Ansammlung von Kapital in der durch die Richtlinie 85/303/EWG des Rates vom 10. Juni 1985 geänderten Fassung steht der Erhebung von Notargebühren für die Beurkundung der Übertragung von Geschäftsanteilen an einer Gesellschaft entgegen, die als Einlage im Rahmen einer Erhöhung des Gesellschaftskapitals einer Kapitalgesellschaft erfolgt ist, und dies in einem Rechtssystem, das dadurch gekennzeichnet ist, dass die Notare Beamte sind und die Gebühren zumindest teilweise dem Staat für die Bestreitung öffentlicher Kosten zufließen.
Normenkette
EWGRL 335/69 Art. 10 Buchst. c
Beteiligte
Albert Reiss Beteiligungsgesellschaft |
Albert Reiss Beteiligungsgesellschaft mbH |
Verfahrensgang
LG Baden-Baden (Beschluss vom 10.10.2005; Aktenzeichen 3 T 42/03) |
LG Baden-Baden (Beschluss vom 20.10.2003; Aktenzeichen 3 T 42/03) |
Tatbestand
„Richtlinie 69/335/EWG ‐ Indirekte Steuern auf die Ansammlung von Kapital ‐ Nationale Regelung, die für die Beurkundung der Übertragung von Geschäftsanteilen an Gesellschaften mit beschränkter Haftung die Erhebung von Notargebühren vorsieht ‐ Gebührenbescheid ‐ Einstufung als gesellschaftsteuerähnliche Abgabe‘ ‐ Vorangehende Formalität ‐ Börsenumsatzsteuer ‐ Abgaben mit Gebührencharakter“
In der Rechtssache C-466/03
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen und ein ergänzendes Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 234 EG, eingereicht vom Landgericht Baden-Baden (Deutschland) mit Entscheidungen vom 20. Oktober 2003 und 10. Oktober 2005, beim Gerichtshof eingegangen am 6. November 2003 und 31. Oktober 2005, in dem Verfahren
Albert Reiss Beteiligungsgesellschaft mbH
gegen
Land Baden-Württemberg
erlässt
DER GERICHTSHOF (Erste Kammer)
unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten P. Jann (Berichterstatter) sowie der Richter K. Lenaerts, E. Juhász, M. Ilešič und E. Levits,
Generalanwälte: L. A. Geelhoed, dann V. Trstenjak,
Kanzler: R. Grass, Kanzler, dann B. Fülöp, Verwaltungsrat,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 9. November 2006,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
‐ der Albert Reiss Beteiligungsgesellschaft mbH, vertreten durch die Rechtsanwälte A. Feber und H. Sandweg,
‐ des Landes Baden-Württemberg, vertreten durch K. Ehmann, M. Steindorfner und F. Mauch als Bevollmächtigte,
‐ der Kommission der Europäischen Gemeinschaften, vertreten durch R. Lyal und K. Gross als Bevollmächtigte,
nach Anhörung der Schlussanträge der Generalanwälte in den Sitzungen vom 16. Juni 2005 und 8. März 2007
folgendes
Urteil
1
Das Vorabentscheidungsersuchen und seine Ergänzung betreffen die Auslegung der Art. 10 und 12 der Richtlinie 69/335/EWG des Rates vom 17. Juli 1969 betreffend die indirekten Steuern auf die Ansammlung von Kapital (ABl. L 249, S. 25) in der durch die Richtlinie 85/303/EWG des Rates vom 10. Juni 1985 (ABl. L 156, S. 23) geänderten Fassung (im Folgenden: Richtlinie 69/335).
2
Diese Ersuchen ergehen im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen der Albert Reiss Beteiligungsgesellschaft mbH (im Folgenden: Reiss) und dem Land Baden-Württemberg über die Zahlung von Notargebühren für die Beurkundung der Übertragung von Geschäftsanteilen an einer Gesellschaft mit beschränkter Haftung auf Reiss, wobei diese Übertragung als Einlage im Rahmen einer Erhöhung des Stammkapitals von Reiss erfolgte.
Rechtlicher Rahmen
Gemeinschaftsrecht
3
Mit der Richtlinie 69/335 soll, wie sich aus ihren ersten beiden Erwägungsgründen ergibt, der freie Kapitalverkehr, eine der für die Schaffung eines Binnenmarkts wesentlichen Grundfreiheiten, gefördert werden. Die Richtlinie soll steuerrechtliche Hindernisse beseitigen, die auf dem Gebiet der Ansammlung von Kapital bestehen, insbesondere was Kapitalzuführungen, d. h. Kapitalzufuhren von Gesellschaftern oder Aktionären an ihre Kapitalgesellschaften, anbelangt.
4
Zu diesem Zweck sehen die Art. 1 bis 9 der Richtlinie die Erhebung einer harmonisierten Abgabe auf Kapitalzuführungen (im Folgenden: Gesellschaftsteuer) vor.
5
In Art. 4 der Richtlinie sind die Vorgänge aufgeführt, die die Mitgliedstaaten einer solchen Gesellschaftsteuer unterwerfen können oder müssen.
6
So bestimmt Art. 4 Abs. 1 Buchst. c der Richtlinie, dass die Mitgliedstaaten Gesellschaftsteuer auf „die Erhöhung des Kapitals einer Kapitalgesellschaft durch Einlagen jeder Art“ erheben.
7
Außerdem sieht Art. 10 der Richtlinie im Licht ihres letzten Erwägungsgrundes die Aufhebung von Steuern oder Abgaben mit den gleichen Merkmalen wie die Gesellschaftsteuer (im Folgenden: gesellschaftsteuerähnliche Abgaben) vor.
8
Abgesehen von der Gesellschaftsteuer erheben die Mitgliedstaaten daher nach Art. 10 Buchst. c der Richtlinie von Gesellschaften, Personenvereinigungen oder juristischen Personen mit Erwerbszweck keinerlei andere Steuer...