Entscheidungsstichwort (Thema)
Vorlage zur Vorabentscheidung. Freier Kapitalverkehr. Besteuerung von Dividenden, die öffentlich-rechtliche Pensionsfonds erhalten. Unterschiedliche Behandlung von gebietsansässigen und gebietsfremden öffentlich-rechtlichen Pensionsfonds. Steuerbefreiung nur der gebietsansässigen öffentlich-rechtlichen Pensionsfonds. Vergleichbarkeit der Situationen. Rechtfertigung. Erfordernis, das mit der Sozialpolitik verfolgte Ziel zu erreichen. Erfordernis, eine ausgewogene Aufteilung der Besteuerungsbefugnis zwischen den Mitgliedstaaten zu wahren
Normenkette
AEUV Art. 63
Beteiligte
Keva, Landskapet Ålands pensionsfond, Kyrkans Centralfond |
Verfahrensgang
Högsta förvaltningsdomstol (Schweden) (Beschluss vom 24.01.2023; ABl. EU 2023, Nr. C 121/7) |
Tenor
Art. 63 AEUV ist dahin auszulegen, dass er einer Regelung eines Mitgliedstaats entgegensteht, nach der die Dividendenausschüttungen gebietsansässiger Gesellschaften an gebietsfremde öffentlich-rechtliche Rentenkassen an der Quelle besteuert werden, während die Dividendenausschüttungen an gebietsansässige öffentlich-rechtliche Pensionsfonds von einer solchen Besteuerung befreit sind.
Tatbestand
In der Rechtssache
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Högsta förvaltningsdomstol (Oberstes Verwaltungsgericht, Schweden) mit Entscheidung vom 24. Januar 2023, beim Gerichtshof eingegangen am 26. Januar 2023, in dem Verfahren
Keva,
Landskapet Ålands pensionsfond,
Kyrkans Centralfond
gegen
Skatteverket
erlässt
DER GERICHTSHOF (Erste Kammer)
unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten A. Arabadjiev, der Richter T. von Danwitz, P. G. Xuereb (Berichterstatter) und A. Kumin sowie der Richterin I. Ziemele,
Generalanwalt: A. M. Collins,
Kanzler: A. Lamote, Verwaltungsrätin,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 11. Januar 2024,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
- der Keva, des Landskapet Ålands pensionsfond und des Kyrkans Centralfond, vertreten durch K. Äimä und K. Grüssner,
- des Skatteverk, vertreten durch K. Hjelmberg und U. Vretendahl,
- der schwedischen Regierung, vertreten durch C. Meyer-Seitz und R. Shahsavan Eriksson als Bevollmächtigte,
- der spanischen Regierung, vertreten durch A. Pérez-Zurita Gutiérrez als Bevollmächtigte,
- der Europäischen Kommission, vertreten durch P. Carlin, A. Ferrand und W. Roels als Bevollmächtigte,
nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 21. März 2024
folgendes
Urteil
Entscheidungsgründe
Rz. 1
Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 63 AEUV.
Rz. 2
Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen einerseits der Keva, dem Landskapet Ålands pensionsfond (Pensionsfonds der Provinz Åland, Finnland) und dem Kyrkans Centralfond (kirchlicher Zentralfonds, Finnland), drei Rentenkassen des öffentlichen Rechts, die im Rahmen des finnischen Systems der betrieblichen Altersversorgung eingerichtet wurden, und andererseits dem Skatteverk (Finanzverwaltung, Schweden) betreffend die Frage, wie die von schwedischen Gesellschaften an die Kläger des Ausgangsverfahrens ausgeschütteten Dividenden in Schweden steuerlich zu behandeln sind.
Rechtlicher Rahmen
Völkerrecht
OECD-Musterabkommen zur Vermeidung der Doppelbesteuerung
Rz. 3
Der Rat der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) nahm am 30. Juli 1963 eine Empfehlung zur Vermeidung der Doppelbesteuerung an und legte den Regierungen der Mitgliedstaaten nahe, sich beim Abschluss oder bei der Überarbeitung bilateraler Übereinkünfte an einem vom Steuerausschuss der OECD erarbeiteten „Musterabkommen zur Vermeidung der Doppelbesteuerung auf dem Gebiet der Steuern vom Einkommen und vom Vermögen” im Anhang der Empfehlung (im Folgenden: OECD-Musterabkommen) zu orientieren. Das OECD-Musterabkommen wird regelmäßig überprüft und überarbeitet. Es gibt zu ihm einen vom Rat der OECD genehmigten Kommentar.
Rz. 4
Art. 24 („Gleichbehandlung”) Abs. 1 des OECD-Musterabkommens bestimmt:
„Staatsangehörige eines Vertragsstaats dürfen im anderen Vertragsstaat keiner Besteuerung oder damit zusammenhängenden Verpflichtung unterworfen werden, die anders oder belastender ist als die Besteuerung oder die damit zusammenhängenden Verpflichtungen, denen Staatsangehörige des anderen Staates unter gleichen Verhältnissen, insbesondere hinsichtlich der Ansässigkeit, unterworfen sind oder unterworfen werden können. …”
Rz. 5
In Nr. 10 des Kommentars zu Art. 24 des OECD-Musterabkommens heißt es:
„… Die Bestimmungen von [Art. 24] Abs. 1 sind nicht dahin zu verstehen, dass ein Staat, der seinen eigenen öffentlichen Einrichtungen oder Dienststellen als solchen besondere Steuervorteile gewährt, verpflichtet ist, den öffentlichen Einrichtungen und Dienststellen des anderen Staates dieselben Vorteile zu gewähren”.
Rz. 6
Nr. 12 dieses Kommentars bestimmt:
„… wenn ein Staat seinen eigenen öffentlichen Einrichtungen und Dienststellen Steuerfreiheit gewährt, ist dies dadurch gerechtfertigt, dass die...