Leitsatz
Dem Gerichtshof der Europäischen Union werden folgende Rechtsfragen zur Vorabentscheidung vorgelegt:
1. Ist in einem Fall, in dem eine in einem Mitgliedstaat (Inland) lebende Person Anspruch auf Kindergeld für Kinder hat, die in einem anderen Mitgliedstaat (Ausland) beim anderen, von ihm getrennt lebenden Ehegatten wohnen, Art. 60 Abs. 1 Satz 2 der VO Nr. 987/2009 anzuwenden mit der Folge, dass die Fiktion, wonach bei der Anwendung von Art. 67 und 68 der VO Nr. 883/2004 die Situation der gesamten Familie in einer Weise zu berücksichtigen ist, als würden alle Beteiligten – insbesondere was das Recht zur Erhebung eines Leistungsanspruchs anbelangt – unter die Rechtsvorschriften des betreffenden Mitgliedstaats fallen und dort wohnen, dazu führt, dass der Anspruch auf Kindergeld ausschließlich dem im anderen Mitgliedstaat (Ausland) lebenden Elternteil zusteht, weil das nationale Recht des ersten Mitgliedstaats (Inland) vorsieht, dass bei mehreren Kindergeldberechtigten der Elternteil anspruchsberechtigt ist, der das Kind in seinen Haushalt aufgenommen hat?
2. Für den Fall, dass die erste Frage zu bejahen sein sollte:
Ist bei dem unter 1. dargelegten Sachverhalt Art. 60 Abs. 1 Satz 3 der VO Nr. 987/2009 dahin auszulegen, dass dem in einem Mitgliedstaat (Inland) lebenden Elternteil der Anspruch auf Kindergeld nach inländischem Recht zusteht, weil der im anderen Mitgliedstaat (Ausland) lebende andere Elternteil keinen Antrag auf Kindergeld gestellt hat?
3. Für den Fall, dass die zweite Frage bei dem unter 1. dargelegten Sachverhalt dahin zu beantworten sein sollte, dass die unterbliebene Antragstellung des im EU-Ausland lebenden Elternteils zum Übergang des Anspruchs auf Kindergeld auf den im Inland lebenden Elternteil führt:
Nach welchem Zeitraum ist davon auszugehen, dass ein im EU-Ausland lebender Elternteil das Recht auf Kindergeld nicht i.S.v. Art. 60 Abs. 1 Satz 3 der VO Nr. 987/2009 "wahrnimmt" mit der Folge, dass es dem im Inland lebenden Elternteil zusteht?
Normenkette
Art. 267 Abs. 3 AEUV, § 32 Abs. 1 Nr. 1, § 62 Abs. 1 Nr. 1, § 63 Abs. 1, § 64 Abs. 2 EStG, Art. 1 Buchst. i Nr. 1 lit. i, Art. 2 Abs. 1, Art. 3 Abs. 1 Buchst. j, Art. 7, Art. 11 Abs. 3, Art. 67, Art. 68, Art. 68a VO Nr. 883/2004, Art. 60 Abs. 1 VO Nr. 987/2009
Sachverhalt
Der in Deutschland wohnende Kläger ist von seiner früheren Ehefrau, die zusammen mit dem im April 2000 geborenen gemeinsamen Sohn in Polen lebt, geschieden. Er bezog im streitigen Zeitraum von Januar 2011 bis Oktober 2012 Arbeitslohn und Leistungen nach dem SGB II. Die frühere Ehefrau ging in Polen einer Erwerbstätigkeit nach und hatte wegen der nach polnischem Recht bestehenden Einkommensgrenze keinen Anspruch auf polnische Familienleistungen. Einen Antrag auf Familienleistungen nach deutschem oder polnischem Recht hatte sie nicht gestellt.
Im August 2012 beantragte der Kläger Kindergeld für seinen Sohn. Die Familienkasse lehnte den Antrag ab, da die Kindsmutter vorrangig zum Bezug von Kindergeld berechtigt sei.
Das FG gab der Klage statt und verpflichtete die Familienkasse, Kindergeld für den Sohn ab Januar 2011 zu gewähren (FG Düsseldorf, Urteil vom 13.3.2013, 15 K 4316/12 Kg, Haufe-Index 3740428).
Entscheidung
Der BFH setzte das Verfahren aus und legte dem EuGH die in den Leitsätzen formulierten Fragen zur Vorabentscheidung vor.
Hinweis
Der Vorlagebeschluss behandelt Auslegungsprobleme der VO Nr. 883/2004 und der VO Nr. 987/2009 und den Einfluss dieser unionsrechtlichen Regelungen auf das deutsche Kindergeld.
1. Freizügigkeitsberechtigte Eltern mit Wohnsitz oder gewöhnlichem Aufenthalt in Deutschland haben nach § 62 Abs. 1 Nr. 1 EStG Anspruch auf Kindergeld für Kinder, die in Deutschland, einem EU-Mitgliedstaat oder einem EWR-Staat ihren Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt haben (§ 63 Abs. 1 Satz 3 EStG). Wohnt ein Elternteil in Deutschland, das Kind aber mit dem anderen Elternteil in einem anderen Mitgliedstaat (hier: Polen), kann daher nur der hier lebende Elternteil Kindergeld beanspruchen.
2. Zu Frage 1: Wenn nach Art. 60 Abs. 1 Satz 2 der VO Nr. 987/2009 i.V.m. Art. 67 und 68 der VO Nr. 883/2004 für den gemeinschaftsrechtlich zu den Familienleistungen zählenden Kindergeldanspruch zu fingieren wäre, dass alle Familienangehörigen, d.h. auch der andere Elternteil mit dem Kind, im Inland wohnen, hätte auch der im Ausland lebende Elternteil einen Kindergeldanspruch, der wegen der Haushaltsaufnahme des Kindes gegenüber dem Anspruch des in Deutschland lebenden Elternteils vorrangig wäre (§ 64 Abs. 2 Satz 1 EStG). Der nach deutschem Recht zunächst begründete Kindergeldanspruch des hier lebenden Elternteils könnte wegen der Anwendbarkeit von Unionsrecht entfallen.
3. Zu Frage 2: Wenn der im Ausland lebende Elternteil nach § 64 Abs. 2 Satz 1 EStG vorrangig berechtigt sein sollte, aber kein Kindergeld beantragt hat, was häufig vorkommen dürfte, dann entfällt der Anspruch mit Eintritt der Festsetzungsverjährung. Die unterlassene Antragstellung führt nach deutschem Recht insbesond...