Entscheidungsstichwort (Thema)

Hinderung der Aufhebung der Kindergeldfestsetzung nach § 70 Abs. 2 EStG wegen Treu und Glauben

 

Leitsatz (redaktionell)

Leben Enkel im Haushalt der Großeltern im Inland, begründet die Bewilligung und fortlaufende Auszahlung des Kindergeldes an die Großeltern einen Vertrauenstatbestand, so dass die Familienkasse nach Treu und Glauben an der Aufhebung des Kindergeldes nach § 70 Abs. 2 EStG gehindert ist, wenn die Eltern des Kindes einen vorrangigen Anspruch auf Kindergeld in Irland haben, aber in Feld 1 des Vordrucks E 411 bescheinigt wurde, dass die Mutter des Enkelkindes weder als Arbeitnehmer beschäftigt war, noch dass sie als Selbstständige tätig war und dieser Frage offen gelassen wurde.

 

Normenkette

EStG § 70 Abs. 2, § 62 Abs. 1 Nr. 1, § 63 Abs. 1 S. 1 Nr. 3, § 64 Abs. 2 S. 1; EWGV 1408/71 Art. 76 Abs. 1, Art. 73; EWGV 574/72 Art. 10 Abs. 1, Art. 111 Abs. 2

 

Tenor

1. In dem Verfahren 12 K 3538/10 werden der Bescheid vom 17. August 2010 und die Einspruchsentscheidung vom 31. August 2010 ersatzlos aufgehoben.

2. Die Revision wird zugelassen.

3. Das Urteil ist hinsichtlich der Kosten vorläufig vollstreckbar. Ermöglicht der Kostenfestsetzungsbeschluss eine Vollstreckung im Wert von mehr als 1.500 Euro, hat die Klägerin in Höhe des vollstreckbaren Kostenerstattungsanspruches Sicherheit zu leisten. Bei einem vollstreckbaren Kostenerstattungsanspruch bis zur Höhe von 1.500 Euro kann die Beklagte der vorläufigen Vollstreckung widersprechen, wenn die Klägerin nicht zuvor in Höhe des vollstreckbaren Kostenanspruchs Sicherheit geleistet hat.

4. In dem Verfahren 12 V 3980/10 wird die Vollziehung des Bescheids vom 17. August 2010 ausgesetzt.

5. Die Beklagte und Antragsgegnerin trägt in den Verfahren 12 K 3538/10 und 12 V 3980/10 jeweils die Kosten.

 

Tatbestand

Streitig ist, ob die Beklagte berechtigt war, die Kindergeldfestsetzung nach § 70 Abs. 2 des Einkommensteuergesetzes (EStG) aufzuheben, oder ob sie nach Treu und Glauben hieran gehindert war.

Die Klägerin wohnt seit Jahren in X. Seit September 2004 lebt auch ihr – am 9. Dezember 1994 in Y (Lettland) geborener – Enkel bei ihr[1]. Seither hatte die Beklagte der Klägerin für das Enkelkind Kindergeld gewährt[2].

Zuvor – mit Beschlüssen vom 1. September 2004[3] – hatte das Waisengericht in Z (Lettland) den Eltern das Sorgerecht für das Enkelkind entzogen und die Klägerin zu dessen Vormund bestellt. Hierzu hatte das Waisengericht ausgeführt, dass die Ehe der Eltern des Enkelkindes seit dem 12. Dezember 2001 geschieden sei. Auch habe die arbeitslose Mutter keinen festen Wohnsitz.

Mit Schreiben vom 4. März 2009 bat der in Irland – als dem Mitgliedstaat der Erwerbstätigkeit – für die Gewährung der Familienleistungen zuständige Träger (künftig: das CBO) die Beklagte und Antragsgegnerin (künftig: Beklagte) um Auskunft, ob in Deutschland – als dem Wohnmitgliedstaat der Familienangehörigen – ein Anspruch auf Familienleistungen (Kindergeld) für den Enkel der Klägerin besteht, und zwar für die Zeit von Dezember 2006 bis August 2008[4]. Für die Anfrage verwendete das CBO den zur Durchführung der Verordnungen (EWG) Nr. 1408/71 und (EWG) Nr. 574/72 des Rates eingeführten Vordruck E 411.

Die Beklagte ergänzte den Vordruck E 411 unter dessen Abschnitt B („Certificate”; „Bescheinigung”). Hierbei gab sie – in Feld 7, Zeile 1 – das Verwandtschaftsverhältnis der Klägerin zu ihrem Enkel lediglich mit „Enkelkind” an. Mit Schreiben vom 23. März 2009[5] leitete sie den Vordruck wieder an das CBO zurück. Mit dem Schreiben vom 23. März 2009 teilte sie – insoweit abweichend von ihren Angaben in Feld 7 – außerdem mit, sie habe der Klägerin das Kindergeld in Höhe von 164 Euro monatlich gezahlt.

Mit Schreiben vom 29. April 2009[6] bat das CBO um Auskunft dazu, ob die Beklagte der Ansicht zustimmen würde, dass die Mutter des Enkelkindes nach Art. 73 der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 des Rates vom 14. Juni 1971 zur Anwendung der Systeme der sozialen Sicherheit auf Arbeitnehmer und deren Familien, die innerhalb der Gemeinschaft zu- und abwandern (künftig: EWGV 1408/71), in Irland einen Anspruch auf Kindergeld habe.

Hierauf stellte die Beklagte die Zahlung des Kindergelds für die Zeit ab Oktober 2009 ein[7]. Auf die Anfrage der Beklagten[8] teilte das CBO mit, es habe im Einklang mit Art. 73 EWGV 1408/71 für die Zeit von Dezember 2006 bis August 2008 Kindergeld in Höhe von insgesamt 3.500 Euro ausbezahlt, und zwar im Einzelnen wie folgt:

– für Dezember 2006 bis März 2007:

150 Euro monatlich

– für April 2007 bis März 2008:

160 Euro monatlich

– für April 2008 bis August 2008:

166 Euro monatlich

Das CBO teilte aber auch mit, dass die Mutter des Enkelkindes immer noch in Irland ansässig[9] sei.

Hierauf hob die Beklagte die bisherige Kindergeldfestsetzung mit ihrem Schreiben vom 17. August 2010 für die Zeit von Dezember 2006 bis August 2008 teilweise auf. Nunmehr setzte sie das Kindergeld für die Zeit von Dezember 2006 bis März 2007 auf monatlich 4 Euro oder in Höhe von insgesamt 16 Euro fest[...

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