rechtskräftig
Entscheidungsstichwort (Thema)
Haftung des ehemaligen Vertreters einer britischen Limited für Umsatzsteuerverbindlichkeiten und Säumniszuschläge der Ltd. aufgrund geschätzter, unter dem Vorbehalt der Nachprüfung stehender und damit nur formell bestandskräftiger Umsatzsteuerbescheide. Anwendbarkeit von § 166 AO bereits bei formeller Unanfechtbarkeit der Steuerfestsetzung
Leitsatz (redaktionell)
1. Es ist nicht ernstlich zweifelhaft, dass der ehemalige Vertreter einer britischen Limited rechtmäßig als Haftungsschuldner für Umsatzsteuerverbindlichkeiten der Limited in Anspruch genommen werden kann, wenn er im streitigen Zeitraum als alleiniger Geschäftsführer und anschließend als Mitgeschäftsführer neben einem weiteren Geschäftsführer der Limited nicht für die fristgerechte Einreichung inhaltlich zutreffender Umsatzsteuervoranmeldungen sowie für die fristgerechte Einreichung einer inhaltlich zutreffenden Umsatzsteuererklärung für das Vorjahr gesorgt hat. Der Haftungsschuldner muss die gegenüber der Limited ergangenen geschätzten, formell bestandskräftigen, nicht mit Einsprüchen angefochtenen Umsatzsteuerbescheide bzw. Voranmeldungen auch dann nach § 166 AO gegen sich gelten lassen, wenn sie unter dem Vorbehalt der Nachprüfung ergangen sind und daher auf einen entsprechenden Antrag der Limited hin noch nach § 164 Abs. 2 AO geändert hätten werden können (gegen BFH v. 28.3.2001, VII B 213/00).
2. § 166 AO stellt auf die formelle Unanfechtbarkeit der Steuerfestsetzung, nicht auf deren materielle Unabänderbarkeit ab. Voraussetzung ist damit, dass die Steuerfestsetzung nicht (mehr) mit einem förmlichen Rechtsbehelf (Einspruch, Klage, Nichtzulassungsbeschwerde, Revision) angefochten werden kann. Nicht entscheidend ist dagegen, ob die Steuerfestsetzung nach Maßgabe der Korrekturvorschriften der AO noch geändert werden kann.
3. Lässt der potentielle Haftungsschuldner eine Steuerfestsetzung gegenüber der von ihm vertretenen Gesellschaft im Vertrauen auf die materielle Änderungsmöglichkeit formell bestandskräftig werden, hat er die sich hieraus ergebende Gefahr, dass es zu einer Änderung der Steuerfestsetzungen nicht mehr kommt, selbst zu tragen. Eine besondere Schutzwürdigkeit des Haftungsschuldners besteht insoweit nicht (Anschluss an FG Köln v. 13.10.2011, 13 K 4121/07).
4. Der Erlass eines Haftungsbescheides i. S. v. § 191 AO setzt keine wirksame Bekanntgabe entsprechender Steuerbescheide voraus. Ausreichend sind vielmehr die materiell-rechtliche Entstehung sowie das aktuelle Fortbestehen der Steuerschuld.
5. Die Haftung des Vertreters einer Kapitalgesellschaft gemäß § 69 S. 2 AO erfasst dem Grunde nach auch die von der Gesellschaft verwirkten Säumniszuschläge zu den rückständigen sog. Primärschulden; das gilt aber ab dem Zeitpunkt der sog. Insolvenzreife der Gesellschaft i. S. v. § 17 Abs. 2 InsO nur noch für 50 v. H. der ab diesem Zeitpunkt verwirkten Säumniszuschläge.
Normenkette
AO § 69 Sätze 1-2, § 34 Abs. 1, § 191 Abs. 1, §§ 166, 149 Abs. 2; FGO § 69 Abs. 2 S. 2, Abs. 3 S. 1, § 102; UStG § 18 Abs. 1, 3
Tenor
Die Vollziehung des Haftungsbescheides vom 6. Juni 2008 in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 1. August 2014 wird hinsichtlich eines Teilbetrages in Höhe von 447,50 EUR ab Fälligkeit bis zum Ablauf eines Monats nach Zustellung einer Entscheidung im Verfahren 9 K 9169/14 aufgehoben. Im Übrigen wird der Antrag zurückgewiesen.
Die Kosten des Verfahrens hat der Antragsteller zu tragen. Die Beschwerde zum Bundesfinanzhof wird zugelassen.
Tatbestand
I.
Die Beteiligten streiten um die Frage, ob der Antragsgegner den Antragsteller als ehemaligen gesetzlichen Vertreter einer Ltd. wegen rückständiger Abgabenverbindlichkeiten dieser Gesellschaft persönlich in Haftung nehmen kann.
Der 1979 geborene Antragsteller mit Wohnsitz in C. (Land Brandenburg) war einziger Gründungsgesellschafter der am 25. Mai 2005 mit Sitz in D. (Großbritannien) gegründeten Ltd. sowie zunächst deren einziger gesetzlicher Vertreter (director). Die Gesellschaft war im Gesellschaftsregister des Companies House in Cardiff (Wales) registriert. Als „secretary” fungierte F. aus G..
Am 24. Februar 2006 gingen beim Finanzamt H. zwei vom Antragsteller ausgefüllte und mit seiner Unterschrift versehene Fragebogen betr. „Gründung einer Kapitalgesellschaft” sowie „Ergänzende Angaben zur steuerlichen Erfassung eines Unternehmens” mit Unterschriftdatum jeweils vom 18. Februar 2006 ein, mittels derer die Ltd. die Aufnahme der Geschäftstätigkeit einer Zweigniederlassung in C. rückwirkend zum 25. Mai 2005 anzeigte. Deren Unternehmensgegenstand war nach eigenen Angaben „online-Versandhaus, Groß- und Einzelhandel mit Elektronikteilen, Software und Spielzeug”. Die Gesellschaft verkaufte vor allem Spielkonsolen, die sie importiert hatte. Es handelte sich um illegale Geschäfte, weil Markenrechte verletzt wurden. Das Amtsgericht I. verurteilte den Antragsteller per Strafbefehl vom 28. Juni 2007 u. a. wegen Betruges sowie Verletzung des Marken- und des Geschmacksmus...