Entscheidungsstichwort (Thema)
Pfändung einer Berufsunfähigkeitsrente durch das FA
Leitsatz (redaktionell)
1. Der Anspruch auf eine befristete Berufsunfähigkeitsrente ist gem. § 319 AO i. V. m. § 850b Abs. 1 Nr. 1 ZPO grundsätzlich unpfändbar.
2. Eine auf § 319 AO i. V. m. § 850b Abs. 2 ZPO gestützte Pfändungs- und Einziehungsverfügung ist wegen ernstlicher Zweifel an deren Rechtmäßigkeit von der Vollstreckung auszusetzen, wenn weder eine vorherige Anhörung des Vollstreckungsschuldners noch der von § 850b Abs. 2 ZPO als Pfändungsvoraussetzung bestimmte Abwägungs- und Entscheidungsprozess des FA stattgefunden hat und die Pfändungs- und Einziehungsverfügung keine Ausführungen zu der zu treffenden Billigkeitsentscheidung enthält.
Normenkette
AO §§ 319, 249 Abs. 1 S. 1, § 121 Abs. 1; ZPO § 850b Abs. 1 Nr. 1, Abs. 2, § 851c; FGO § 69 Abs. 2 S. 2, Abs. 3 S. 1
Tenor
Die die Vollziehung der Pfändungs- und Einziehungsverfügung des Antragsgegners vom 07. Oktober 2010 (Aktenzeichen: …) wird ausgesetzt.
Die Kosten des Verfahrens hat der Antragsgegner zu tragen.
Tatbestand
I.
Die Beteiligten streiten um die Rechtmäßigkeit der Pfändung von Ansprüchen des Antragstellers gegen die EV AG (Niederlassung Europa) auf Zahlung einer Berufsunfähigkeitsrente.
Der Antragsteller war bis etwa 2006 als Rechtsanwalt selbständig tätig. In der Zeit vom 06. Februar 2006 bis zum 10. Oktober 2006 wurde bei dem Antragsteller eine Betriebsprüfung durchgeführt und in der Folgezeit Änderungen der Einkommen- und Umsatzsteuerfestsetzungen vorgenommen. Nach diesen Änderungen und unter Berücksichtigung der Steuerfestsetzungen für andere, nicht von der Betriebsprüfung erfasster Veranlagungszeiträume kam der Antragsgegner im Sommer 2010 zu dem Ergebnis, dass noch Zahlungen des Antragstellers auf Einkommensteuer für die Jahre 1998, 1999, 2001 und 2002, Lohnsteuer für 2006, Umsatzsteuer für 1999, 2001, 2002, 2004, 2005 und 2006 zuzüglich Solidaritätszuschlägen, Zinsen und Säumniszuschläge in Höhe von insgesamt 243.661,00 Euro ausstehen.
Zuvor war bereits am 18. September 2006 über des Vermögen des Antragstellers das Insolvenzverfahren eröffnet worden (Amtsgericht S.-H., Beschluss vom 18. September 2006, Aktenzeichen: …).
Mit Beschluss vom 21. September 2009 [Aktenzeichen: …] stellte das Amtsgericht S.-H. das Insolvenzverfahren über das Vermögen des Antragstellers mangels Masse ein. Eine Restschuldbefreiung war nicht beantragt worden.
Dem Antragsgegner wurde aufgrund des Gutachtens in dem Insolvenzantragsverfahren über das Vermögen des Antragstellers vom September 2006 bekannt, dass dieser seit 1999 eine Berufsunfähigkeitsrente bezog, die bis zum 31. Juli 2013 befristet ist [Teil B. III. Nr. 1.11.2 und 2.4. des Gutachtens]. Hierzu ist in dem Gutachten auch vermerkt, dass sich aus der Berufsunfähigkeitsrente voraussichtlich pfändbare und damit dem Insolvenzbeschlag unterliegende Einkommensbestandteile ergeben würden [Teil B. III. Nr. 2.4. des Gutachtens].
Mit Pfändungs- und Einziehungsverfügung vom 07. Oktober 2010 pfändete der Antragsgegner wegen des oben genannten Betrages zuzüglich Vollstreckungskosten (269,70 Euro), Pfändungsgebühren (20,00 Euro) und Auslagen (2,50 Euro) – insgesamt mithin 243.953,20 Euro – die dem Antragsteller zustehenden Ansprüche gegen die EV AG (Niederlassung Europa) auf Zahlung einer Berufsunfähigkeitsrente.
Die EV AG teilte dem Antragsgegner auf die ihr am 11. Oktober 2010 zugestellte Pfändungs- und Einziehungsverfügung unter dem 12. Oktober 2010 und nochmals unter dem 19. Oktober 2010 mit, dass die Berufsunfähigkeitsrente „nach den Entscheidungen der Oberlandesgerichte Oldenburg (VersR 1994, S. 646 f.), Saarbrücken (VersR 1995, S. 1227 ff.) und München (VersR 1997, S. 1520) gemäß § 850b Abs. 1 Nr. 1 ZPO grundsätzlich unpfändbar” sei. Sollte entgegen der genannten Rechtsprechung von der Pfändbarkeit der Berufsunfähigkeitsrente auszugehen sein, sei aber zumindest gemäß den §§ 850 Abs. 3, 850c ZPO eine Pfändung nur unter Beachtung der Pfändungsfreigrenzen möglich.
Der Antragsteller erhob mit Schreiben vom 26. Oktober 2010 bei dem Antragsgegner Einspruch gegen die Pfändungs- und Einziehungsverfügung vom 07. Oktober 2010.
Danach hat der Antragsteller am 26. Oktober 2010 beantragt, die Vollziehung der Pfändungs- und Einziehungsverfügung des Antragsgegners einstweilen gerichtlich auszusetzen.
Hierzu macht er geltend, der Insolvenzverwalter habe die Ansprüche aus den Verträgen mit der EV AG nach eingehender Prüfung der Rechtslage aus dem Insolvenzverfahren freigegeben, weil es sich um unpfändbare Ansprüche aus einer Berufsunfähigkeitsversicherung handele. Diese Entscheidung des Insolvenzverwalters sei für alle Gläubiger bindend. Zur Unterstützung seines Vorbringens legt der Antragsteller ein Schreiben des Insolvenzverwalters vom 20. März 2007 vor, in dem dieser gegenüber dem Antragsteller die bei der EV AG bestehende Kapitallebensversicherung und die damit verbundene Berufsunfähigkeits-Zusatzversicherung aus dem Insolvenzbeschlag freigab. Außerdem rei...