rechtskräftig
Entscheidungsstichwort (Thema)
Keine Abzweigung von Kindergeld für ein im Haushalt der Eltern lebendes behindertes Kind an den Sozialleistungsträger, der dem Kind Grundsicherungsleistungen wegen Erwerbsminderung gewährt. Mitwirkungspflichten. Höhe der Unterhaltsleistungen bei Wirtschaften „aus einem Topf”
Leitsatz (redaktionell)
1. Abgesehen davon, dass § 68 Abs. 1 S. 1 EStG, wonach derjenige, der Kindergeld erhält, Änderungen in den Verhältnissen mitzuteilen hat, die für die Leistung (des Kindergeldes) erheblich sind, schon keine Beweislast des Kindergeldberechtigten begründet, beziehen sich die in der Vorschrift begründeten Mitteilungspflichten auf diejenigen Umstände, die den Anspruch auf Kindergeld begründen oder entfallen lassen, nicht hingegen auf die für die Abzweigungsentscheidung maßgebenden Umstände.
2. Es erscheint ernstlich zweifelhaft, ob die Schätzung der Höhe der vom Kindergeldberechtigten für das in seinem Haushalt lebende behinderte Kind getragenen Unterhaltsaufwendungen – wie in der Praxis zumeist üblich – bei den gemeinschaftlichen Ausgaben einer Haushalts- oder Wirtschaftsgemeinschaft durch eine der Anzahl der Haushaltsangehörigen folgende Quotelung erfolgen darf.
3. Im Rahmen der Entscheidung über die Abzweigung von Kindergeld an den Sozialleistungsträger, der dem im Haushalt des Kindergeldberechtigten lebenden behinderten Kind Grundsicherungsleistungen wegen Erwerbsminderung gewährt, kommt es nicht in Betracht, Grundsicherungsleistungen und Unterhaltsleistungen des Kindergeldberechtigten gegeneinander zu „verrechnen”.
4. Im Regelfall ist von der Annahme auszugehen, dass die Unterhaltsleistungen der kindergeldberechtigten Eltern für das in ihrem Haushalt lebende behinderte Kind den Kindergeldbetrag übersteigen. Es spricht viel dafür, diese in R 33a Abs. 1 S. 4 und 5 EStR zum Ausdruck kommende, den gesetzlichen Regelungen folgende Wertung zumindest der Sache nach bei der Ermessensausübung im Rahmen des § 74 Abs. 1 EStG zu berücksichtigen. Dies hat indes zur Folge, dass eine Abzweigung ausgeschlossen ist.
Normenkette
EStG § 74 Abs. 1 Sätze 3-4, Abs. 2, § 68 Abs. 1 S. 1; SGB XII § 43 Abs. 1-2, § 41 Abs. 1, § 27a Abs. 1; SGB X § 104; AO § 5; EStR R 33a Abs. 1 Sätze 4-5
Tenor
Der Bescheid der Beklagten vom 26. Juli 2010 und deren Einspruchsentscheidung vom 06. Dezember 2010 werden aufgehoben.
Der Abzweigungsantrag des Beigeladenen wird zurückgewiesen.
Die Kosten des Verfahrens hat die Beklagte zu tragen. Davon ausgenommen sind die außergerichtlichen Aufwendungen des Beigeladenen, der diese Aufwendungen selbst trägt.
Die Zuziehung eines Bevollmächtigten für das Vorverfahren wird für notwendig erklärt.
Das Urteil ist hinsichtlich der Kosten vorläufig vollstreckbar. Die Beklagte darf die Vollstreckung gegen Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des aufgrund des Urteils vollstreckbaren Betrages abwenden, wenn nicht die Klägerin zuvor Sicherheit in Höhe des jeweils zu vollstreckenden Betrages leistet.
Die Revision wird zugelassen.
Tatbestand
Die Beteiligten streiten darum, ob das der Klägerin für ihren Sohn E. zustehende Kindergeld – bezogen auf den Zeitraum von November 2009 bis Januar 2011 – an die Klägerin auszuzahlen oder an den beigeladenen Träger der Sozialhilfe abzuzweigen ist.
Der am 30. Januar 1989 geborene Sohn der Klägerin begann im November 2006 eine Ausbildung zum Kfz-Mechatroniker. Während dieser Ausbildung erlitt der Sohn der Klägerin einen Verkehrsunfall, der die Beendigung der Ausbildung zum 23. November 2008 nach sich zog. Der Sohn der Klägerin ist seit dem Unfall behindert und lebt im Haushalt der Klägerin. In dem Schwerbehindertenausweis vom 27. Mai 2008 ist der Grad der Behinderung 100 angegeben; außerdem sind die Merkzeichen G [erhebliche Beeinträchtigung der Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr] und B [ständige Begleitung notwendig] angebracht. In dem Schwerbehindertenausweis vom 02. März 2011, der ab dem 01. August 2010 gültig ist, ist der Grad der Behinderung 70 angegeben; Merkzeichen sind nicht (mehr) angebracht. Seit März 2009 war der Sohn der Klägerin in einer Werkstatt für behinderte Menschen tätig. Der Sohn der Klägerin bezog von der Agentur für Arbeit Halle bis einschließlich März 2010 ein Ausbildungsgeld in Höhe von monatlich 62,00 Euro und danach ein Ausbildungsgeld in Höhe von monatlich 73,00 Euro.
Die Klägerin wurde mit Beschluss vom 23. April 2007 (Amtsgericht H.s – Vormundschaftsgericht –, Aktenzeichen: …) zur vorläufigen Betreuerin ihres Sohnes bestellt.
Mit Schreiben vom 13. Oktober 2009 beantragte der Beigeladene die Abzweigung des Kindergeldes aus dem Anspruch der Klägerin unter Hinweis auf die Gewährung der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung. Diese betrug zu diesem Zeitpunkt 192,48 Euro monatlich und beläuft sich ab April 2010 auf 207,57 Euro monatlich. Hilfsweise meldete er einen Erstattungsanspruch nach § 74 Abs. 2 des Einkommensteuergesetzes in Verbindung mit § 104 des Zehnten Buches des Sozialgesetzbuches an. Zur weiteren Begründung ...