Entscheidungsstichwort (Thema)
Widerruf eines begünstigenden Abrechnungsbescheids ist Ermessensentscheidung. Aufrechnung im Insolvenzverfahren mit vor Verfahrenseröffnung entstandenen Haftungsforderungen
Leitsatz (redaktionell)
1. Der Widerruf eines begünstigenden Verwaltungsakts bildet eine Ermessensentscheidung.
2. Der Steuerpflichtige ist in seinem subjektiven Recht auf fehlerfreie Ermessensausübung verletzt, wenn das FA seinen Ermessenserwägungen einen wenn nicht teilweise unzutreffenden, so zumindest unvollständigen Sachverhalt zugrunde gelegt hat.
3. Das FA kann in einem Insolvenzverfahren mit Haftungsforderungen aufrechnen, die vor der Eröffnung des Verfahrens entstanden sind, ohne dass es des vorherigen Erlasses eines Haftungsbescheids, der Feststellung der Haftungsforderung oder ihrer Anmeldung zur Tabelle bedürfte.
4. Will das FA einen begünstigenden Abrechnungsbescheid nach § 131 Abs. 2 S. 1 Nr. 3 AO widerrufen, muss es im Rahmen der Betätigung seines Ermessens zumindest berücksichtigen, dass es sich die Möglichkeit, mit derjenigen Forderung aufzurechnen, über die es in begünstigender Weise gegenüber dem Schuldner abgerechnet hat, nach Erlass des begünstigenden Abrechnungsbescheids selbst genommen hat.
Normenkette
AO §§ 5, 131 Abs. 2 S. 1 Nr. 3, § 218 Abs. 2, § 73; InsO §§ 94-95, 41
Tenor
Der Abrechnungsbescheid über Umsatzsteuer für 2004 und 2005 vom 08. April 2011, die zu diesem ergangene Einspruchsentscheidung vom 23. September 2011 sowie der Abrechnungsbescheid über Umsatzsteuer für 2004 und 2005 vom 08. Februar 2012 werden aufgehoben.
Die Kosten des Rechtsstreits hat der Beklagte zu tragen.
Das Urteil ist hinsichtlich der Kosten vorläufig vollstreckbar. Der Beklagte darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung abwenden, soweit nicht der Kläger vor der Vollstreckung Sicherheit leistet.
Die Revision wird zugelassen.
Tatbestand
Die Beteiligten streiten über die Rechtmäßigkeit eines Abrechnungsbescheids.
Der Beklagte änderte mit Bescheiden vom 30. Januar 2009 gegenüber dem Kläger die Umsatzsteuerfestsetzungen für 2004 und 2005. Hierbei berücksichtigte er erstmals eine seiner Auffassung nach zwischen dem Kläger – als Organträger – und der E. – … Zeitarbeit – GmbH (E. GmbH) – als Organgesellschaft – bestehende Organschaft. Der Beklagte setzte die Umsatzsteuer 2004 auf 163.819,80 EUR fest, was zu einer Nachzahlung i.H.v. 163.855,70 EUR führte. Die Umsatzsteuer 2005 erhöhte er auf 222.216,60 EUR (Nachzahlung 154.831,05 EUR). Die geänderten Umsatzsteuerbescheide sind Gegenstand der unter dem Aktenzeichen 3 K 777/10 anhängigen Klage, über die der Senat bislang nicht entschieden hat.
Bereits am 11. Mai 2006 war das Insolvenzverfahren über das Vermögen der E. GmbH eröffnet worden.
Der Beklagte setzte die Rechtsfolgen der von ihm angenommenen Organschaft zwischen dem Kläger und der E. GmbH gegenüber der E. GmbH nicht durch eine Änderung bzw. Aufhebung der gegenüber der E. GmbH ergangenen Umsatzsteuerbescheide um, sondern übersandte dem Insolvenzverwalter unter dem Datum vom 23. März 2009 Steuerberechungen zur Umsatzsteuer für 2004 und 2005.
Ebenfalls unter dem 23. März 2009 rechnete der Beklagte mit einem Haftungsanspruch für 2004 i.H.v. 191.709,70 EUR (Umsatzsteuer 2004 163.855,70 EUR, Zinsen hierzu 27.854,00 EUR) dem Insolvenzverwalter über das Vermögen der E. GmbH gegenüber gegen dessen auf Erstattung von Umsatzsteuer für 2004 und Zinsen zu dieser gerichtete Forderung, die er mit 192.529,70 EUR bezifferte, auf. Zugleich rechnete er auch mit einem Haftungsanspruch für 2005 i.H.v. 171.859,05 EUR (Umsatzsteuer 2005 154.831,05 EUR, Zinsen hierzu 17.028,00 EUR) gegen dessen auf Erstattung von Umsatzsteuer für 2005 und Zinsen zu dieser gerichtete Forderung, die er mit 172.633,05 EUR bezifferte, auf. Er führte jeweils aus, aufgerechnet werde mit einer Forderung des Landes Sachsen-Anhalt, vertreten durch den Beklagten, gegen eine Forderung des Insolvenzverwalters gegen das Land Sachsen-Anhalt, ebenfalls vertreten durch den Beklagten. Der Kläger, der neben seiner Ehefrau B. Gesellschafter der P GmbH sei, die ihrerseits Alleingesellschafterin der E. GmbH sei, schulde dem Beklagten Umsatzsteuer für 2004 i.H.v. 163.855,70 EUR nebst Zinsen zu jener i.H.v. 27.854,– EUR, in der Summe 191.709,70 EUR sowie für 2005 i.H.v. 154.831,05 EUR nebst Zinsen zu jener i.H.v. 17.028,– EUR. Die Inanspruchnahme der E. GmbH erfolge nach § 191 der Abgabenordnung (AO) i.V.m. § 73 Satz 1 AO. Nach § 73 Satz 1 AO hafte eine Organgesellschaft für Steuern des Organträgers, für welche die Organschaft zwischen jenen steuerlich von Bedeutung sei. Zwischen dem Kläger und der E. GmbH habe vom 12. Mai 2004 bis zur Eröffnung des Insolvenzverfahrens über deren Vermögen im Jahre 2006 eine umsatzsteuerliche Organschaft bestanden. Die Haftung für die Steuern des Klägers bestehe nach Beendigung der Organschaft und Eröffnung des Insolvenzverfahrens fort. Dessen Umsatzsteuerschulden beruhten ausschließlich auf Umsätzen der GmbH. Er, der Beklagte,...