Entscheidungsstichwort (Thema)
Wiedereinsetzung bei Abweichung von der Steuererklärung ohne Angabe von Gründen bzw. Anhörung des Steuerpflichtigen. Verpflichtung zur Bescheidung eines Einspruches wegen Einkommensteuer 1987
Leitsatz (amtlich)
1. Die Versäumung der Einspruchsfrist ist regelmäßig unverschuldet, wenn bei finanzamtlichem Abweichen von der Steuererklärung dem Steuerbescheid die Gründe für das Abweichen nicht ohne weiteres einfach und leicht zu entnehmen und dem Steuerpflichtigen auch sonst nicht bekannt sind. Bei Zweifeln, ob eine unterbliebene Begründung oder Anhörung für die Versäumung der Einspruchsfrist tatsächlich ursächlich war, ist zu Gunsten des Steuerpflichtigen zu entscheiden.
2. Der Steuerpflichtige trägt aber das Risiko eines verspäteten Wiedereinsetzungsantrages, wenn er eine nachträgliche Begründung des Finanzamtes subjektiv für nicht nachvollziehbar hält, sie es aber bei objektiver Drittbetrachtung tatsächlich ist. Dass die nachträgliche Begründung restlos überzeugt, ist, wie im Falle der einem Steuerbescheid sogleich ordnungsgemäß beigegebenen Begründung, nicht erforderlich.
3. Beschränkt der Steuerpflichtige in einem Anwendungsfall des § 126 Abs. 3 AO seinen Klageantrag auf die Aufhebung der Einspruchsentscheidung und die Verpflichtung des Finanzamtes zur sachlichen Neubescheidung seines Einspruchs, so darf das FG auch bei Entscheidungsreife nicht zur Sache durch entscheiden.
Normenkette
AO § 126 Abs. 3 S. 1; FGO § 96 Abs. 1 S. 2
Tenor
Unter Aufhebung der Einspruchsentscheidung vom 15. September 1994 wird der Beklagte verpflichtet, über den Einspruch der Kläger vom 19. Dezember gegen den geänderten Einkommensteuerbescheid für 1987 vom 1. Juni 1990 sachlich zu entscheiden.
Die Kosten des Verfahrens werden dem Beklagten auferlegt.
Das Urteil ist hinsichtlich der Kosten vorläufig vollstreckbar. Der Beklagte darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung abwenden, wenn nicht die Kläger vor der Vollstreckung Sicherheit leisten.
Tatbestand
Die Kläger sind Eheleute, die beim Beklagten zusammen zur Einkommensteuer – ESt – veranlagt werden. Der Kläger war bis einschließlich 1986 zu 50 v.H. beteiligter Gesellschafter/Geschäftsführer der Fa. X GmbH, deren 1986 gestellter Antrag auf Eröffnung des Konkursverfahrens durch Beschluss des Amtsgerichts Homburg vom 22. Juni 1986 mangels Masse abgelehnt wurde. Daraufhin machten die Kläger in ihrer ESt-Erklärung für 1986 einen auf § 17 Einkommensteuergesetz – EStG – gestützten Auflösungsverlust in Höhe von insgesamt – aufgerundet – 137.203 DM geltend, der neben dem vom Beklagten berücksichtigten Verlust des Stammkapitals auch die Übernahme von Darlehen der GmbH, für die sich der Kläger verbürgt hatte, sowie Zinsen hierzu umfasste. Der Auflösungsverlust wurde den Klägern auf ihre Klage durch rechtskräftiges Urteil des Senats vom 9. Februar 1990 1 K 343/88 in voller Höhe zuerkannt und alsdann vom Beklagten im Wege von Verlustrück – bzw. – vorträgen bei den ESt-Festsetzungen für 1984, 1985 und 1987 berücksichtigt.
Bereits zuvor hatten die Kläger in ihrer ESt-Erklärung für 1987 in der Anlage KSO in der Zeile „Vermögensauskehrungen bei Kapitalherabsetzung oder Liquidation” einen Verlust in Höhe von 7.806 DM geltend gemacht, der sich nach einer Erläuterung hierzu aus Notar- und Gerichtskosten in Höhe von insgesamt 436,60 DM und im Übrigen aus Bankzinsen zusammensetzte. Im Hinblick auf das damals noch anhängige Klageverfahren 1 K 343/88 berücksichtigte der Beklagte diesen Verlust im ESt-Bescheid für 1987 vom 30. September 1988 nicht. Der Bescheid erging wegen der nichtberücksichtigten Einkünfte aus Kapitalvermögen und eines etwaigen Verlustabzuges gemäß § 10 d EStG nach § 165 Abs. 1 Abgabenordnung – AO – vorläufig. Im späteren ESt-Änderungsbescheid für 1987 vom 1. Juni 1990, durch welchem dem Senatsurteil 1 K 343/88 Rechnung getragen wurde, blieb der für 1987 geltend gemachte Verlust aus Kapitalvermögen weiterhin unberücksichtigt. Hierzu wurden die Kläger weder gehört, noch wurde darauf im Bescheid oder einer Anlage hierzu hingewiesen.
Mit Schreiben vom 3. September 1990 legten die Kläger durch ihren jetzigen Prozessbevollmächtigten gegen den zwischenzeitlich ergangenen ESt-Bescheid für 1988 vom 24. August 1990 Einspruch ein, mit dem sie sich gegen die Nichtberücksichtigung eines Veräußerungs-(zins)verlustes in Höhe von 6.798,06 DM für das Kalenderjahr 1988 wandten. Alsdann ging beim Beklagten am 10. September 1990 ein weiteres Schreiben des Prozessbevollmächtigten der Kläger vom 7. September 1990 ein. Darin beantrage er namens der Kläger, den geänderten ESt-Bescheid für 1987 vom 1. Juni 1990 wegen einer offenbaren Unrichtigkeit im Sinne des § 129 AO zu berichtigen, weil in dem Bescheid nur der sich aus dem Urteil 1 K 343/88 ergebende Verlustabzug durchgeführt, nicht aber der weitere für 1987 geltend gemachte Verlustbetrag berücksichtigt worden sei. Unter Bezugnahme auf die beiden vorgenannten Schreiben der Kläger fragte der Beklagte mit Schreiben ...