Entscheidungsstichwort (Thema)
Pflegekindschaftsverhältnis als Voraussetzung für Kindergeldanspruch: Aufnahme eines volljährigen, mit Unterstützung einer Lebenshilfeeinrichtung in einer eigenen Wohnung lebenden Menschen mit einer Behinderung in den Haushalt eines Familienangehörigen
Leitsatz (redaktionell)
Übernimmt nach dem Tod der Mutter die Schwester die Betreuung ihres von Geburt an schwerbehinderten Bruders und wird sie vom Amtsgericht daneben auch zur gesetzlichen Betreuerin des Bruders für die Aufgabenkreise Gesundheitsvorsorge, Aufenthaltsbestimmung, Vermögenssorge, Geltendmachung von Ansprüchen auf Altersversorgung und Sozialhilfe sowie Geltendmachung von Ansprüchen auf Unterhalt bestellt, so kann der volljährige Schwerbehinderte auch dann in den Haushalt der Schwester als Voraussetzung für ein Pflegekindschaftsverhältnis aufgenommen sein, wenn er zwar bereits 68 Jahre alt war und mit Unterstützung einer Lebenshilfeeinrichtung sowie der Schwester in einer eigenen Wohnung lebte, wenn ihm jedoch im Haushalt der Schwester ein eigenes Zimmer zur Verfügung stand, er an allen Wochenenden, Feiertagen und zu Familienfeiern im Haushalt und in der Familiengemeinschaft der Schwester lebte, der Schwester die Fürsorge für ihren Bruder oblag, sie sich vollumfänglich um seine Belange gekümmert hat und wenn die Aufenthalte des Bruders in ihrer Wohnung soweit über bloße Besuche hinausgingen, dass in Würdigung der tatsächlichen Gegebenheiten der Haushalt der Schwester den Mittelpunkt der Lebensinteressen des Bruders darstellte.
Normenkette
EStG § 63 Abs. 1 S. 1 Nr. 1, § 32 Abs. 1 Nr. 2
Nachgehend
Tenor
Der Bescheid vom 20. Juni 2017 in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 19. Juli 2017 wird aufgehoben und der Klägerin Kindergeld ab Juni 2017 bewilligt.
Die Kosten des Verfahrens werden der Beklagten auferlegt.
Das Urteil ist hinsichtlich der Kosten vorläufig vollstreckbar. Die Beklagte kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung abwenden, sofern nicht die Klägerin zuvor Sicherheit leistet.
Die Revision wird zugelassen.
Tatbestand
Die Klägerin war die Schwester des am 24. September 1950 geborenen und am 1. März 2018 verstorbenen B. Herr B war von Geburt an schwerbehindert (100 GdB). In seinem Schwerbehindertenausweis sind unter anderem die Merkzeichen „G” und „H” eingetragen. Es ist ferner vermerkt, dass die Notwendigkeit ständiger Begleitung besteht. Herr B lebte in einer eigenen Wohnung in Z. Er bezog Eingliederungshilfe sowie Altersrente für schwerbehinderte Menschen (Bl. 13 KiG). Herr B bedurfte der Betreuung, die auch durch die Lebenshilfe Y erbracht wurde. Bis zu ihrem Tod im Mai 2017 oblag die Betreuung von Herrn B daneben in erster Linie seiner Mutter, die auch Kindergeld bezog. Die Klägerin übernahm nach dem Tod der Mutter die Betreuung von Herrn B. Am 24. August 2017 wurde sie vom AG X daneben zur gesetzlichen Betreuerin von Herrn B für die Aufgabenkreise Gesundheitsvorsorge, Aufenthaltsbestimmung, Vermögenssorge, Geltendmachung von Ansprüchen auf Altersversorgung und Sozialhilfe und Geltendmachung von Ansprüchen auf Unterhalt bestellt (Bl. 27).
Am 16. Juni 2017 beantragte die Klägerin Kindergeld für ihren Bruder ab dem Monat Juni 2017, deren Gewährung die Beklagte mit Bescheid vom 20. Juni 2017 ablehnte (Bl. 26 KiG). Den Einspruch der Klägerin vom 12. Juli 2017 (Bl. 29 KiG) wies die Beklagte mit Einspruchsentscheidung vom 19. Juli 2017 (Bl. 32 KiG) als unbegründet zurück.
Am 8. August 2017 hat die Klägerin Klage erhoben (Bl. 1).
Sie beantragt,
den Bescheid vom 20. Juni 2017 in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 19. Juli 2017 aufzuheben und der Klägerin Kindergeld ab Juni 2017 zu bewilligen.
Zur Begründung trägt die Klägerin vor, sie habe nach dem Tod der Mutter deren Funktion im Hinblick auf die Betreuung von Herrn B weitgehend übernommen. Der Umstand, dass Herr B eine eigene Wohnung bewohnt habe, könne für die Gewährung von Kindergeld nicht entscheidend sein, zumal die Wohnsituation auch schon lange vor dem Tod der Mutter bestanden und der Gewährung von Kindergeld nicht entgegengestanden habe. Herrn B habe in der Wohnung der Klägerin ein eigenes Zimmer zur Verfügung gestanden. Er habe sich an jedem Wochenende, an allen Feiertagen und – solange er noch gearbeitet habe – auch während der Betriebsferien im Haushalt der Klägerin aufgehalten. Die Klägerin habe Herrn B überdies auch materiell unterstützt.
Die Beklagte beantragt,
die Klage als unbegründet abzuweisen.
Die rechtlichen Voraussetzungen für die Gewährung von Kindergeld lägen im Streitfall nicht vor, da Herr B eine eigene Wohnung bewohne. Ein Pflegekindschaftsverhältnis zur Klägerin bestehe daher nicht.
Mit Verfügungen vom 17. August 2018 hat das Gericht sich an die Lebenshilfe für Menschen mit geistiger Behinderung e.V., Kreisvereinigung W, gewandt und um Auskunft gebeten,
- • ob nach ihrer Wahrnehmung zwischen der Klägerin und Herrn B ein Aufsichts- und Betreuungsverhältnis bestand, das ...