Entscheidungsstichwort (Thema)
Verfassungsmäßigkeit des Ausschlusses von geduldeten Ausländern von der Kindergeldberechtigung
Leitsatz (redaktionell)
- Als gewöhnlicher Aufenthalt i.S.d. §§ 62 Abs. 1 Nr. 1 EStG, 9 AO gilt auch ein zeitlich zusammen hängender Aufenthalt von mehr als sechs Monaten während des Asylverfahrens und für die Zeiten der Unterbringung in Gemeinschaftsunterkünften.
- Ein türkischer Staatsangehöriger ist unabhängig von seinem ausländerrechtlichen Aufenthaltsstatus gem. Art. 2 Abs. 1 des Vorläufigen Europäischen Abkommens vom 11.12.1953 über Soziale Sicherheit (BGBl. II 1956, 507) hinsichtlich der Rechtsfolgen des gewöhnlichen Aufenthalts einem deutschen Staatsangehörigen gleichzustellen.
- Der Begriff des „Wohnens” im Sinne des Abkommens entspricht dem des „gewöhnlichen Aufenthalts”.
- Das Bestehen einer Ausreiseverpflichtung ist angesichts der Dauer asyl- bzw. ausländerrechtlicher Verfahren für die Prognose eines nur vorübergehenden Aufenthalts in Deutschland nicht entscheidend.
Normenkette
EStG § 62 Abs. 1 Nr. 1, Abs. 2, § 63 Abs. 1 S. 3; AO § 9; DA-FamEStG Tz. 62.4.3 Abs. 2
Streitjahr(e)
2000, 2001, 2002, 2003, 2004
Nachgehend
Tatbestand
Streitig ist die Kindergeldfestsetzung für den im März 1998 geborenen Sohn „A” der Klägerin. Die Klägerin hat ein weiteres Kind, den im Oktober 2001 geborenen Sohn „B”.
Die Klägerin ist türkische Staatsangehörige. Sie reiste 1989 als Minderjährige nach Deutschland ein, ihr Asylantrag wurde 1991 abgelehnt, die dagegen erhobene Klage 1992 zurück genommen. Fortan erhielt die Klägerin eine Duldung. Am 25.1.1995 stellte die Klägerin einen Asylfolgeantrag, der abgelehnt wurde; die Ablehnung wurde am 5.1.2000 rechtskräftig. Am 22.10.2004 stellte die Klägerin einen weiteren Asylfolgeantrag, der ebenfalls jeweils abgelehnt wurden. Das Verwaltungsgericht „C” stellte 19.10.2006 unter teilweiser Stattgabe der gegen die ablehnende Entscheidung des Bundesamts gerichteten Klage der Klägerin ein Abschiebehindernis nach § 60 Abs. 7 S. 1 des Aufenthaltgesetzes (AufenthG) fest.
Die Klägerin war vom 4.7.1995 bis zum 9.2.1998 und vom 25.5.1998 bis zum 22.6.1998 sozialversicherungspflichtig beschäftigt. Vom 13.12.1999 bis zum 6.12.2000 bezog sie Arbeitslosengeld, danach bis zum 9.9.2001 Anschlussarbeitslosenhilfe und erneut vom 2.9.2003 bis zum 27.5.2004 Arbeitslosenhilfe. Sie ist seit dem 28.5.2004 sozialversicherungspflichtig beschäftigt. Die Klägerin wohnte zunächst in verschiedenen Gemeinschaftsunterkünften; seit dem 1.2.2002 bewohnt sie eine eigene Wohnung.
Die Klägerin beantragte erstmals am 27.4.1998 Kindergeld (Antrag vom 10.4.1998). Die Familienkasse lehnte diesen Antrag mit Bescheid vom 30.4.1998 ab. Der Bescheid trägt keinen ausdrücklichen Postaufgabevermerk, ist jedoch mit einem Datumsstempel, der das Datum des 4.5.1998 ausweist, versehen. Wegen der Einzelheiten wird auf Bl. 4 der beigezogenen Kindergeldakte Bezug genommen.
Das Sozialamt machte in der Folgezeit einen Erstattungsanspruch wegen Sozialhilfe geltend und beantragte gem. § 67 S. 2 des Einkommensteuergesetzes (EStG) Kindergeld. Die Klägerin stellte einen eigenen Antrag am 13.8.1999. Die Beklagte lehnte diesen Antrag mit Bescheid vom 17.10.2000 ab. Der Bescheid enthält keinen ausdrücklichen Postaufgabevermerk, das Datum des 17.10.2000 ist jedoch mit einem Stempel eingefügt worden. Wegen der Einzelheiten wird auf Bl. 21 der Kindergeldakte Bezug genommen. Die Familienkasse informierte das Sozialamt über die Ablehnung des Kindergeldantrags.
Am 14.12.2000 beantragte die Klägerin erneut Kindergeld. Die Familienkasse lehnte den erneuten Antrag mit Bescheid vom 21.12.2000 ab und setzte Kindergeld in Höhe von null DM fest. Zur Begründung verwies die Beklagte jeweils auf § 62 Abs. 2 EStG a.F. Die Bescheide vom 17.10. und 21.12. wurden an die gleiche Postanschrift versandt („E-Straße”).
Gegen den Bescheid vom 21.12.2000 legte die Klägerin Einspruch ein und begehrte die Festsetzung von Kindergeld ab der Geburt ihres Sohnes „A”. Die Beklagte half dem Einspruch mit Änderungsbescheid vom 23.4.2001 für die Monate November und Dezember 2000 ab, weil die Klägerin bis Dezember 2000 Arbeitslosengeld bezogen hatte. Sie wies darauf hin, dass der Änderungsbescheid Gegenstand des Einspruchsverfahrens geworden sei. Für die Monate vor November 2000 sah sie sich an der Festsetzung von Kindergeld durch den bestandskräftigen Ablehnungsbescheid vom 17.10.2000 gehindert. Das weitere Verfahren wurde „zurückgestellt”.
Das Sozialamt der Stadt „D” machte im November 2001, auch für den zwischenzeitlich geborenen Sohn „B”, einen Erstattungsanspruch geltend. Den Kindergeldantrag der Klägerin für den Sohn „B” vom 20.11.2001 lehnte die Beklagte am 6.3.2002 unter Hinweis auf § 62 Abs. 2 EStG a.F. ab.
Mit Bescheid vom 3.8.2004 setzte die Beklagte Kindergeld für beide Kinder ab dem Monat Mai 2004 fest. Für die Monate Mai bis August 2004 ging sie dav...