Entscheidungsstichwort (Thema)

EuGH-Vorlage: Sinngemäße Anwendung von Art. 87 Abs. 4 UZK auf die Einfuhrumsatzsteuer

 

Leitsatz (amtlich)

Verstößt es gegen die Richtlinie 2006/112/EG, insbesondere deren Art. 30 und 60, wenn eine mitgliedstaatliche Vorschrift denArt. 215 Abs. 4 der Verordnung (EWG) Nr. 2913/92 für sinngemäß auf die Einfuhrmehrwertsteuer anwendbar erklärt?

 

Normenkette

MwStSystRL Art. 30, 60, 71; UZK Art. 87 Abs. 4; ZK Art. 215 Abs. 4

 

Nachgehend

EuGH (Urteil vom 18.01.2024; Aktenzeichen C-791/22)

 

Gründe

A.

Der Kläger wendet sich gegen die Festsetzung von Einfuhrmehrwertsteuer - in Deutschland Einfuhrumsatzsteuer genannt - auf Schmuggelzigaretten.

Der in Polen ansässige Kläger erwarb am 29. September 2012 auf einem Markt in A (Polen) insgesamt 43.760 Zigaretten, die nur mit ukrainischen und weißrussischen Steuerbanderolen versehen waren. Er transportierte diese Zigaretten, ohne Zollstellen zu informieren, nach Deutschland, wo er sie am 2. Oktober 2012 in der Nähe von B (Deutschland) an seinen deutschen Käufer übergab. Bei dieser Übergabe wurde der Kläger festgenommen und die Zigaretten sichergestellt und später vernichtet.

Mit Steuerbescheid XXX vom 3. Februar 2015 setzte der Beklagte für die Zigaretten ... € Einfuhrumsatzsteuer fest. Die Zigaretten seien vorschriftswidrig in das Zollgebiet der Union verbracht worden. Daher sei gemäß Art. 202 Abs. 1 Buchst. a) ZK die Zollschuld entstanden. Da der Kläger habe wissen müssen, dass die Zigaretten vorschriftswidrig verbracht worden seien, sei er Zollschuldner gemäß Art. 202 Abs. 3 Anstrich 3 ZK. In sinngemäßer Anwendung der genannten Zollvorschriften gemäß § 21 Abs. 2 UStG sei die Einfuhrumsatzsteuerschuld entstanden und der Kläger Schuldner der Einfuhrumsatzsteuer geworden.

Nach einem erfolglosen Einspruchsverfahren hat der Kläger am 15. Januar 2018 Anfechtungsklage gegen den Steuerbescheid erhoben. Das Verfahren wurde zunächst bis zur Entscheidung in der Rechtssache C-7/20 und erneut im Hinblick auf die Rechtssache C-368/21 ausgesetzt. Am 21. September 2022 wurde es wieder aufgenommen.

Wegen der hier in Rede stehenden Zigaretten hat der Beklagte auch Tabaksteuer festgesetzt. Die dagegen gerichtete Klage hat der Kläger fallen gelassen.

B.

Der Vorlagebeschluss ergeht im Einverständnis der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung.

Der vorlegende Senat setzt das Verfahren in sinngemäßer Anwendung von § 74 der Finanzgerichtsordnung aus und legt dem Gerichtshof gemäß Art. 267 Satz 1 Buchst. b) des Vertrages über die Arbeitsweise der Europäischen Union die im Tenor genannte Frage zur Vorabentscheidung vor, weil die rechtliche Würdigung des Falles von der Auslegung eines Unionsrechtsaktes abhängt.

Die Vorlagefrage ist inhaltlich identisch mit der zweiten Vorlagefrage in der Rechtssache C-368/21 (Hauptzollamt Hamburg [Ort des Entstehens der Mehrwertsteuer - II], EU:C:2022:647). Diese Frage konnte der Gerichtshof im Urteil vom 8. September 2022 nicht beantworten, weil sie angesichts der Antwort auf die erste Vorlagefrage nicht entscheidungserheblich war. Weil im vorliegenden Fall noch der Zollkodex Anwendung findet (Rn. 15), wird nach der Auslegung von Art. 215 Abs. 4 ZK gefragt, der jedoch - bis auf den niedrigeren Schwellenwert - inhaltlich identisch ist mit Art. 87 Abs. 4 UZK (Rn. 19).

I. Rechtlicher Rahmen 1. Mehrwertsteuerrichtlinie 2006/112/EG (MwStRL)

Gemäß Art. 2 Abs. 1 Buchst. d) der Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom 28. November 2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem (ABl. L 347,1) unterliegt die Einfuhr von Gegenständen der Mehrwertsteuer.

Nach Art. 30 Abs. 1 MwStRL gilt als Einfuhr eines Gegenstands die Verbringung eines Gegenstands, der sich nicht im freien Verkehr befindet, in die Union.

In Art. 60 MwStRL heißt es zum "Ort der Einfuhr von Gegenständen":

Die Einfuhr von Gegenständen erfolgt in dem Mitgliedstaat, in dessen Gebiet sich der Gegenstand zu dem Zeitpunkt befindet, in dem er in die Gemeinschaft verbracht wird.

In Art. 62 MwStRL heißt es zum "Steuertatbestand und Steueranspruch":

Für die Zwecke dieser Richtlinie gilt

(1) als ‚Steuertatbestand' der Tatbestand, durch den die gesetzlichen Voraussetzungen für den Steueranspruch verwirklicht werden; (2) als "Steueranspruch" der Anspruch auf Zahlung der Steuer, den der Fiskus kraft Gesetzes gegenüber dem Steuerschuldner von einem bestimmten Zeitpunkt an geltend machen kann, selbst wenn Zahlungsaufschub gewährt werden kann.

Nach Art. 70 MwStRL treten Steuertatbestand und Steueranspruch zu dem Zeitpunkt ein, zu dem die Einfuhr des Gegenstands erfolgt.

In Art. 71 MwStRL heißt es abweichend von Art. 70 MwStRL:

(1) Unterliegen Gegenstände vom Zeitpunkt ihrer Verbringung in die [Union] einem Verfahren oder einer sonstigen Regelung im Sinne der Artikel 156, 276 und 277, der Regelung der vorübergehenden Verwendung bei vollständiger Befreiung von Einfuhrabgaben oder dem externen Versandverfahren, treten Steuertatbestand und Steueranspruch erst zu dem Zeitpunkt ein, zu dem die Gegenstände diesem Verfahren oder dieser...

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