Rechtskräftig
Entscheidungsstichwort (Thema)
Finanzgerichtsordnung: Aussetzung der Vollziehung wegen verfassungsrechtlicher Zweifel
Leitsatz (amtlich)
1. Vorläufiger Rechtsschutz gegen die Ablehnung der Änderung der in der Lohnsteuerkarte bescheinigten Steuerklasse ist im Rahmen des Verfahrens auf Aussetzung der Vollziehung zu gewähren.
2. Beruhen die ernstlichen Zweifel an der Rechtmäßigkeit des Verwaltungsakts auf Bedenken gegen die Verfassungsmäßigkeit einer dem Verwaltungsakt zugrunde liegenden Gesetzesvorschrift, so setzt eine Aussetzung der Vollziehung ein (besonderes) berechtigtes Interesse des Antragstellers an der Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes voraus.
Normenkette
FGO § 69; EStG § 38
Tatbestand
I.
Die Antragsteller (Ast) sind seit ... 2006 Partner einer eingetragenen Lebensgemeinschaft. Sie leben nicht getrennt und sind unbeschränkt einkommensteuerpflichtig. Der Antragsteller zu 1) ist nichtselbständig tätig. Seine Lohnsteuerkarte für 2010 liegt dem Arbeitgeber vor. Der Antragsteller zu 2) ist ..., steht nicht in einem Arbeitsverhältnis und ist selbst im Besitz der Lohnsteuerkarte für 2010.
Mit Schreiben vom 09.12.2011 beantragten sie bei dem Antragsgegner (Ag), die Steuerklassen in den fortgeltenden Lohnsteuerkarten 2010 für das Jahr 2012 für den Ast zu 1) von Lohnsteuerklasse I in Lohnsteuerklasse III, für den Ast zu 2) von Lohnsteuerklasse I in Lohnsteuerklasse V zu ändern. Mit Bescheid vom 19.12.2011 lehnte der Ag das Begehren mit der Begründung ab, dass nach derzeitiger Rechtslage die Partner einer eingetragenen Lebenspartnerschaft einkommensteuerlich wie Ledige behandelt würden.
Mit am 29.12.2011 eingegangenen Schreiben vom 23.12.2011 legten die Ast hiergegen Einspruch ein und beantragten gleichzeitig die Aussetzung der Vollziehung des Ablehnungsbescheides. Letzteres lehnte der Ag mit Bescheid vom 02.01.2012 ab, woraufhin die Ast mit am 10.01.2012 eingegangenen Schreiben vom 08.01.2012 bei Gericht einen Antrag auf Aussetzung der Vollziehung gestellt haben. Über den Einspruch ist noch nicht entschieden.
Die Ast sind der Ansicht, dass der Ablehnungsbescheid vom 19.12.2011 rechtswidrig sei. Sie berufen sich auf die Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) vom 07.07.2009 (1 BvR 1164/07) und vom 21.07.2010 (1 BvR 611 und 2464/07) zur ungerechtfertigten Ungleichbehandlung von Ehe und eingetragener Lebenspartnerschaft und auf diverse zwischenzeitlich ergangene positive Entscheidungen der Finanzgerichte in vergleichbaren Fallgestaltungen. Sie sind darüber hinaus der Auffassung, dass im vorliegenden Fall das berechtigte Interesse der Ast an der Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes gegenüber dem öffentlichen Interesse an einer geordneten Haushaltsführung überwiege. Der für die derzeit anhängigen Verfassungsbeschwerden zuständige Senat des Bundesverfassungsgerichts habe mitgeteilt, dass mit einer Entscheidung in naher Zukunft nicht zu rechnen sei. Die Aussetzung der Vollziehung habe zudem keine erhebliche Breitenwirkung, aus der Antwort der Bundesregierung auf eine Kleine Anfrage (BTDrs- 17/16772) zu schließen sei, dass nur eine geringe Zahl von eingetragenen Lebenspartnern gegen die Einzelveranlagung vorgehen werde. Zu berücksichtigen sei zudem, dass der Entscheidung des BVerfG vom 21.07.2010 zum Erbschafts- und Schenkungssteuerrecht eine dem vorliegenden Fall vergleichbare Situation zugrunde gelegen habe und nicht zu erwarten sei, dass das BVerfG dem Gesetzgeber eine Übergangsfrist zur Nachbesserung des Einkommensteuerrechts gewähren werde. Eine Vorwegnahme der Einkommensteuerveranlagung erfolge durch das vorläufige Verfahren nicht, da die Änderung der Lohnsteuerklassen in dem im Fall der Ast wegen übersteigenden Grenzbetrages der Einkünfte aus Vermietung und Verpachtung durchzuführenden nachfolgenden Veranlagungsverfahren ggf. durch Festsetzung einer höheren Nachzahlung rückgängig gemacht werden könne. Zudem könne ein Lohnsteuernachforderungsbescheid erlassen werden.
Die Ast beantragen sinngemäß,
die Vollziehung des Bescheids vom 19.12.2011 mit der Maßgabe auszusetzen, dass ab dem 01.01.2012 für den Antragsteller zu 1) statt der Steuerklasse I die Steuerklasse III und für den Antragsteller zu 2) statt der Steuerklasse I die Steuerklasse V bescheinigt wird.
Der Ag beantragt,
den Antrag abzulehnen.
Er beruft sich auf die derzeit noch geltende Rechtsauffassung der Verwaltung.
Dem Senat haben ein Hefter mit außergerichtlichem Schriftwechsel sowie die Gerichtsakten der erledigten Verfahren 5 K 154/11 und 5 V 155/11 vorgelegen.
Entscheidungsgründe
II.
Der Antrag des Ast zu 2) ist unzulässig, der Antrag des Ast zu 1) zulässig und begründet.
Gemäß § 69 Abs. 3 Satz 1 i. V. m. § 69 Abs. 2 Satz 2 FGO wird die Vollziehung eines angefochtenen Verwaltungsaktes ganz oder teilweise ausgesetzt, wenn ernsthafte Zweifel an der Rechtmäßigkeit des Verwaltungsaktes bestehen oder - was im Streitfall nicht dargelegt oder ersichtlich ist - wenn die Vollziehung für den Betroffenen eine unbillige, nicht durch überwiegende öff...