Entscheidungsstichwort (Thema)
Inanspruchnahme des zollrechtlichen Vertreters ohne Vertretungsmacht für die Einfuhrumsatzsteuer bei fehlgeschlagener innergemeinschaftlicher Lieferung i.S.v. § 5 Abs. 1 Nr. 3 UStG (Verfahrenscode 42)
Leitsatz (amtlich)
1. Stellt sich nach Überlassung von Waren heraus, dass die Voraussetzungen von § 5 Abs. 1 Nr. 3 UStG nicht erfüllt sind, ist die Ermächtigungsgrundlage für die Nacherhebung der Einfuhrumsatzsteuer Art. 101 Abs. 1, Art. 105 Abs. 4 und Abs. 3 UZK in ihren gemäß § 21 Abs. 2 Halbs. 1 UStG entsprechend anwendbaren Fassungen.
2. Die zollrechtlichen Vorschriften dürfen auf die Einfuhrumsatzsteuer nur insoweit entsprechend angewendet werden, wie dies nicht gegen die MwStSystRL oder anderes Unionsrecht verstößt.
3. Kommen mehrere zollrechtliche Vorschriften in Betracht, die entsprechend auf die Einfuhrumsatzsteuer angewendet werden könnten, ist im Wege der richtlinienkonformen Auslegung diejenige auszuwählen, die der Systematik des Mehrwertsteuerrechts am besten entspricht.
4. Soweit das Unionsrecht für eine richtlinienkonforme Auslegung keine Anhaltspunkte liefert, muss diejenige Zollvorschrift entsprechend angewendet werden, die zur "gleiche[n] technische[n] Erledigung" der Einfuhrumsatzsteuer führt wie der Zoll.
5. Die MwStSystRL steht der Nacherhebung der Einfuhrumsatzsteuer nicht entgegen.
6. Die Nacherhebung der Einfuhrumsatzsteuer folgt denselben Regeln wie die Nacherhebung von Zöllen, weil sich die Geltendmachung und Einräumung der Steuerbefreiung gemäß § 5 Abs. 1 Nr. 3 UStG durch entsprechend anwendbare Vorschriften des UZK abbilden lässt.
7. Der Verfahrenscodes 42 hat einen umsatzsteuerrechtlichen Erklärungsgehalt.
8. Die Verwendung des Verfahrenscodes 42 ist ein Antrag i.S.v. Art. 22 UZK analog auf Befreiung von der Einfuhrumsatzsteuer gem. § 5 Abs. 1 Nr. 3 UStG.
9. Der Antrag auf Befreiung von der Einfuhrumsatzsteuer wird durch eine einfuhrumsatzsteuerrechtliche Entscheidung gemäß Art. 22 und Art. 5 Nr. 39 UZK analog beschieden.
10. Die Zollbehörden sind für die Nacherhebung der Einfuhrumsatzsteuer auch dann zuständig, wenn die Nacherhebung darauf gestützt wird, dass die Voraussetzungen der innergemeinschaftlichen Lieferung gemäß §§ 6a, 5 Abs. 1 Nr. 3 UStG nicht erfüllt sind.
11. Eine Einfuhr i.S.v. Art. 30 Abs. 1 MwStSystRL und Art. 29 AEUV liegt jedenfalls dann vor, wenn eine Ware zum zollrechtlich freien Verkehr überlassen worden ist und die Einfuhrabgaben gezahlt worden sind.
12. Die Befreiung von der Einfuhrmehrwertsteuer gemäß Art. 143 Abs. 1 Buchst. d MwStSystRL bzw. § 5 Abs. 1 Nr. 3 UStG ist davon abhängig, dass nach der Einfuhr tatsächlich eine innergemeinschaftliche Lieferung gemäß Art. 138 Abs. 1 MwStSystRL bzw.§ 4 Nr. 1 Buchst. b , § 6a UStG durchgeführt wird.
13. Zu den Voraussetzungen einer innergemeinschaftlichen Lieferung gemäß § 6a Abs. 1 S. 1 Nr. 2 UStG gehört es, dass die Identität des Abnehmers feststeht.
14. Für die Steuerbefreiung nach § 5 Abs. 1 Nr. 3 UStG muss die Lieferung von einem Schuldner der Einfuhrumsatzsteuer bewirkt werden.
15. Es verstößt nicht gegen Unionsrecht, dass ein zollrechtlicher Vertreter ohne Vertretungsmacht gemäß §§ 13a Abs. 2, 21 Abs. 2 UStG i. V. m. Art. 77 Abs. 3 S. 1,Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 UZK analog Schuldner der Einfuhrumsatzsteuer wird.
Normenkette
AEUV Art. 29; UZK Art. 5 Nrn. 12, 15, 39, Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2, Art. 22, 27 f., Art. 77 Abs. 1 Buchst. a), Abs. 2-3, Art. 101 Abs. 1, Art. 102 Abs. 1, Art. 105 Abs. 4, 3, Art. 158 Abs. 1, Art. 201; UZK-DVO Anhang B Titel II 2. Ziff. 1/10 (Verfahren); UZK-DelVO Anhang B Titel II Gruppe 3/40; MwStSystRL Art. 14 ff., Art. 30, 60, 70, 71 Abs. 1 Unterabs. 2, Art. 138 Abs. 1, Art. 143 Abs. 1 Buchst. d, Abs. 2, Art. 201, 205, 211; GG Art. 108 Abs. 1 S. 1; UStG § 1 Abs. 1 Nr. 4, § 3 Abs. 1, § 4 Nr. 1 Buchst. b, § 5 Abs. 1 Nr. 3, § 6a Abs. 1, 4, § 13 Abs. 2, § 21 Abs. 2; AO §§ 118, 122, 131 f., § 155 Abs. 1, §§ 157, 199 Abs. 1; ZollVG § 1 Abs. 1 Sätze 2-3; FVG § 12 Abs. 2
Nachgehend
Tatbestand
Die Klägerin wendet sich gegen die Nacherhebung von Einfuhrumsatzsteuer.
Die Klägerin meldete mit Zollanmeldung vom 12. Dezember 2016 als indirekte Vertreterin der B GmbH, X-Straße, Mitgliedstaat A - ..., (im Folgenden: B) 100 Dokumententaschen (im Folgenden: die Ware) mit einem Zollwert von 817,50 Euro beim Zollamt Hamburg-1 unter Verwendung des Verfahrenscodes 42 zur Überlassung zum zollrechtlich freien Verkehr mit anschließender innergemeinschaftlicher steuerbefreiender Lieferung an. Hierbei gab sie die Umsatzsteuer-Identifikationsnummer (USt-ID) des Mitgliedstaats A der B und die von dem drittländischen Verkäufer C ... (C) erstellte Handelsrechnung Nr. xxx vom 28. November 2016 an und vermerkte die Lieferbedingung DDP.
Der Beklagte setzte zunächst anmeldungsgemäß mit Einfuhrabgabenbescheid XXX-1 vom 12. Dezember 2016 wegen der Warenverkehrsbescheinigung keinen Zoll und wegen der angemeldeten innergemeinschaftlichen Lieferung im Hinbli...