Entscheidungsstichwort (Thema)
Abgabenordnung, Lohnsteuer: Ermessensfehler bei Haftungsinanspruchnahme trotz unzureichender Sachverhaltsaufklärung
Leitsatz (amtlich)
1. Bei der Haftungsinanspruchnahme nach § 191 Abs. 1 AO i. V. m. § 42d EStG für einzubehaltende Lohnsteuer des Geschäftsführers muss das Finanzamt in den Fällen, in denen die Arbeitnehmereigenschaft des Geschäftsführers streitig ist, Feststellungen zu den durch die Rechtsprechung aufgestellten Merkmalen der Unselbständigkeit treffen. Unterlässt es dies und unterstellt stattdessen die Arbeitnehmereigenschaft, ist die im Rahmen der Haftung nach § 191 Abs. 1 AO zu treffende Ermessensentscheidung fehlerhaft, weil die unzureichende Sachverhaltsermittlung unmittelbaren Einfluss auf die Ermessensentscheidung hat.
2. Auch die fehlende Mitwirkung der Person, die das Finanzamt als Haftenden in Anspruch nehmen will, führt nicht dazu, dass das Finanzamt die Arbeitnehmereigenschaft ohne konkrete Anhaltspunkte für die Unselbständigkeit annehmen kann. Die aus der fehlenden Mitwirkung resultierende Reduzierung des Beweismaßes erlaubt nur, einen geringeren Maßstab an die Überzeugungsbildung anzulegen, aber nicht, Feststellungen ohne entsprechende Tatsachengrundlage zu treffen.
Normenkette
AO §§ 5, 191 Abs. 1; EStG § 42d; FGO § 102
Tatbestand
Die Beteiligten streiten um die Haftung der Klägerin für Lohnsteuer bezüglich einer von dem beklagten Finanzamt (FA) angenommenen Geschäftsführervergütung.
I.
1. Die klagende GmbH wurde mit notariell beurkundetem Vertrag vom ... 2006 (Akte Allgemeines -AllgA- Bl. 4 ff.) gegründet. ... Gesellschafter waren die Fa. A sowie Herr und Frau B. Der Sitz der Klägerin befand sich in Hamburg. Zum Geschäftsführer wurde Herr C, wohnhaft D, F, bestellt (AllgA Bl. 40).
2. Am 04.05.2010 fand bei der Klägerin eine den Prüfungszeitraum 01.09.2006 bis 31.12.2009 betreffende Lohnsteuer-Außenprüfung statt.
Die Lohnsteuer-Außenprüferin traf in ihrem Betriebsprüfungsbericht vom 23.05.2011 folgende Feststellungen (Arbeitgeberakte -ArbgA- Bl. 118 ff.):
"Herr C ist angestellter Geschäftsführer der E GmbH. Gesellschaftsanteile besitzt er nicht. Herr C ist Arbeitnehmer gem. § 19 EStG in Verbindung mit § 1 LStDV. Ein schriftlicher Arbeitsvertrag bezüglich seiner Tätigkeit existiert nicht. Es erfolgt auch keine regelmäßige monatliche Gehaltszahlung.
Herrn C wird jedoch vom Arbeitgeber eine Kreditkarte zur Verfügung gestellt, mit der er, neben geschäftlichen Ausgaben, auch private Kosten begleichen kann. Belastungen für diese privaten Aufwendungen werden über das Verrechnungskonto des Geschäftsführers verbucht. Das Verrechnungskonto wurde in 2006 mit 1.194,- Euro, in 2007 mit 14.542,- Euro, in 2008 mit 30.373,- Euro und in 2009 mit 58.582,- Euro belastet. Eine Verzinsung des negativen Verrechnungskontos wurde vorgenommen, ein Ausgleich durch private Mittel des Geschäftsführers erfolgte nicht. Eine Belastung auf einem Verrechnungskonto steht dem Ausgleich durch private Zahlungsmittel nicht gleich. Es handelt sich dabei lediglich um den buchmäßigen Ausweis einer Forderung der Gesellschaft an ihren Geschäftsführer. Ein tatsächlicher Mittelabfluss bei dem Geschäftsführer gem. des Abflussprinzips des § 11 EStG erfolgt hiermit keineswegs.
Einen Darlehensvertrag über die zur Verfügung gestellten Mittel gibt es nicht. Sicherheitsleistungen wurden vom Geschäftsführer nicht gestellt, Bestimmungen über Laufzeit und Tilgung wurden nicht getroffen.
Die Herrn C zur Verfügung gestellten Mittel stellen Arbeitslohn im Sinne des § 2 LStDV dar. Sie fließen ihm im Rahmen seines Dienstverhältnisses zu. Es ist unerheblich, unter welcher Bezeichnung und in welcher Form die Einnahmen gewährt werden und ob sie vertraglich vereinbart wurden. Einem fremden Dritten würde der Arbeitgeber keine Firmenkreditkarte für Privatausgaben zur Verfügung stellen. Herr C erhält diesen Vorteil vom Arbeitgeber, da er als Geschäftsführer für die E GmbH tätig ist.
Die erfolgte Verzinsung des negativen Verrechnungskontos ist unerheblich, da Herr C kein Gesellschafter der E GmbH ist und somit auch keine verdeckte Gewinnausschüttung möglich ist.
Im Rahmen der Lohnsteueraußenprüfung erfolgt eine Nachversteuerung der, über die Firmenkreditkarte zur Verfügung gestellten Mittel, die für private Zwecke verwendet wurden.
Herr C hat seinen festen Wohnsitz im Ausland. Er verfügt jedoch über eine Wohnung im Inland, die er zeitweilig aufsucht. Eine Lohnsteuerkarte von Herrn C konnte nicht vorgelegt werden. (....)"
3. Das FA erließ daraufhin am 06.06.2011 einen Haftungsbescheid über Lohnsteuer und Solidaritätszuschlag für die Zeit von September 2006 bis Dezember 2009, mit dem es die Klägerin gem. § 42d Abs. 1 Einkommensteuergesetz (EStG) wegen Lohnsteuer in Höhe von insgesamt 20.102,00 Euro sowie Solidaritätszuschlag in Höhe von insgesamt 1.071,61 Euro in Anspruch nahm. Beigefügt war der Prüfungsbericht vom 23.05.2011. Die Inanspruchnahme der Klägerin als Haftungsschuldnerin wurde damit begründet, dass sie Lohnsteuer in unzutre...