Entscheidungsstichwort (Thema)
Nichtigkeit eines Schätzungsbescheids
Leitsatz (redaktionell)
1. Eine rechtmäßige Steuerfestsetzung auf der Basis geschätzter Besteuerungsgrundlagen liegt vor, wenn die Finanzbehörde sich bei einem Stpfl., der seiner Erklärungspflicht nicht genügt, an der oberen Grenze des Schätzungsrahmens orientiert, weil der Stpfl. möglicherweise Einkünfte verheimlichen will.
2. Der erkennende Senat sieht keine Rechtsgrundlage für die Annahme, die Stpfl. hätten entgegen der eindeutigen Regelung in § 164 Abs. 1 AO einen ermessensungebundenen Anspruch auf Schätzungen unter dem Vorbehalt der Nachprüfung.
Normenkette
AO §§ 162, 164 Abs. 1, § 125 Abs. 1
Tatbestand
Die Beteiligten streiten über die Frage, ob die gegen die Klägerin gerichteten formal bestandskräftigen und unter Schätzung der Besteuerungsgrundlagen ergangenen Bescheide zur Umsatzsteuer und zur gesonderten Feststellung von Besteuerungsgrundlagen für das Kalenderjahr 2016 der Änderung der Steuerfestsetzungen nach Maßgabe nachgereichter Steuererklärungen bzw. dem Erlass erstmaliger wirksamer Steuerfestsetzungen entgegenstehen. Die Klägerin vertritt die Auffassung, dies sei wegen der Nichtigkeit der Schätzungsbescheide nicht der Fall.
Die Klägerin betreibt seit dem Jahr 2014 eine Praxis als I im Geschäftsbereich des Beklagten. Sie wohnt im Bezirk des Finanzamtes C, durch das sie – mit ihrem Ehemann – auch zur Einkommensteuer veranlagt wird.
Ihre Erklärungen für die Jahre 2014 und 2015 und der Fragebogen zur steuerlichen Erfassung wurden jeweils wesentlich verspätet abgegeben. In dem im Oktober 2017 vorgelegten Fragebogen zur steuerlichen Erfassung schätzte die Klägerin die voraussichtlichen Einkünfte aus selbstständiger Arbeit für das Jahr der Betriebseröffnung (2014) mit 3.000 € und für das Folgejahr mit 8.000 €. Demgegenüber weisen die Gewinnermittlungen nach § 4 Abs. 3 des Einkommensteuergesetzes – EStG – für die Jahre 2014 und 2015 steuerliche Gewinne von 11.674,49 € (2014) und von 17.928,55 € (2015) aus.
Die Feststellungserklärung für das Jahr 2014 wurde nach Schätzung der Besteuerungsgrundlagen eingereicht und führte zu einer antragsgemäßen Feststellung. Für das Jahr 2015 erließ der Beklagte im Januar 2018 ebenfalls unter Schätzung der Besteuerungsgrundlagen einen Feststellungsbescheid, in dem die Einkünfte aus selbständiger Arbeit mit 18.000 € geschätzt wurden. Die Erklärung für das Jahr 2015 ging erst im März 2018 beim Beklagten ein und führte dann zur erklärungsgemäßen Veranlagung.
Ebenfalls im Januar 2018 wurden die Besteuerungsgrundlagen zur Umsatzsteuer 2015 geschätzt. Dabei ging der Beklagte von Lieferungen und sonstigen Leistungen zu 19 % Umsatzsteuer i.H.v. 30.000 € aus. Vorsteuerbeträge wurden mit 2.000 € geschätzt. Dies führte zur Festsetzung der Umsatzsteuer mit 3.700 €. Aus der ebenfalls im März 2018 eingereichten Umsatzsteuererklärung ergab sich eine festzusetzende Umsatzsteuer von 4.027,92 €. Zugrunde lagen zwar nur steuerfreie Umsätze i.H.v. 4.067 € und steuerpflichtige Umsätze von 21.378 €, aber gegenläufig auch lediglich Vorsteuern i.H.v. 33,90 €. Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die Feststellungs- und Steuerbescheide, Steuererklärungen und Gewinnermittlungen der Jahre 2014 und 2015 verwiesen.
Wegen Nichtabgabe der Feststellungs- und der Umsatzsteuererklärung für das Streitjahr 2016 erließ der Beklagte unter dem 30. April 2018 unter Schätzung der Besteuerungsgrundlagen einen Feststellungsbescheid, mit dem Einkünfte aus selbständiger Arbeit i.H.v. 25.000 € festgestellt wurden, und einen Umsatzsteuerbescheid, der auf der Basis geschätzter steuerpflichtiger (30.000 €) und steuerfreier (5.000 €) Umsätze zur Festsetzung von 5.700 € Umsatzsteuer führte. Beide Bescheide ergingen ohne Vorbehalt der Nachprüfung im Sinne des § 164 Abs. 1 der Abgabenordnung – AO – und waren an die Prozessbevollmächtigte als Empfangsbevollmächtigte der Klägerin gerichtet. Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die Bescheide Bezug genommen.
Am 30. Juli 2018 übermittelte die Prozessbevollmächtigte sowohl die Feststellungs- als auch die Umsatzsteuererklärung 2016 für die Klägerin an den Beklagten. Die Einkünfte der Klägerin wurden in Übereinstimmung mit der Gewinnermittlung mit 12.849,78 €, die steuerpflichtigen Umsätze mit 13.723 € und die steuerfreien Umsätze mit 9.653 € bei Vorsteuern von 49,98 € deklariert.
Ebenfalls am 30. Juli 2018 beantragte die Prozessbevollmächtigte im Namen der Klägerin und unter Bezugnahme auf die übermittelten Steuererklärungen die um 3.454,50 € höher festgesetzte Umsatzsteuer ohne Sicherheitsleistung zu stunden und auf die Stundungszinsen zu verzichten. Außerdem beantragte sie den Erlass des mit der Umsatzsteuer festgesetzten Verspätungszuschlages von 110 €.
Der Beklagte legte die vorgelegten Steuererklärungen als Antrag auf Änderung der Schätzungsbescheide aus. Diesen Antrag lehnte er im Hinblick auf die zwischenzeitlich eingetretene Bestandskraft der Bescheide mit Verfügung vom 1. August 2018 ab. Die Ablehnung war...