Entscheidungsstichwort (Thema)
Kindergeldberechtigung eines in Deutschland selbstständig erwerbstätigen Elternteils bei Haushaltsaufnahme der Kinder beim anderen Elternteil in Italien unter Anwendung der VO (EG) Nr. 883/2004. Anspruchskonkurrenz
Leitsatz (redaktionell)
1. Der Kindergeldanspruch eines in Deutschland gewerblich tätigen Elternteils ist nicht schon deshalb ausgeschlossen, weil die in Italien lebende Kindsmutter die Kinder in ihrem Haushalt aufgenommen hat.
2. Art. 68 der VO (EG) Nr. 883/2004 stellt für den Fall des Zusammentreffens von Ansprüchen für dieselben Familienangehörigen für denselben Zeitraum Prioritätsregeln auf. Die Anwendung der Prioritätsregeln setzt eine Anspruchskonkurrenz voraus.
3. Die Gewährung italienischer Familienleistungen setzt eine Beschäftigung des Antragstellers voraus.
Normenkette
EStG § 64 Abs. 2 S. 1, § 62 Abs. 1; BKGG § 3 Abs. 2 S. 1, § 1; EGV 883/2004 Art. 68; EGV 987/2009 Art. 11
Nachgehend
Tenor
1. Der Bescheid über die Ablehnung der Festsetzung von Kindergeld vom 25. Mai 2010 in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 1. Juli 2010 für die Kinder V und F wird aufgehoben. Die Beklagte wird verpflichtet, den Kläger für die Kinder für den Zeitraum Mai 2010 bis Juli 2010 unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts zu bescheiden.
Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
2. Die Kosten des Verfahrens trägt die Beklagte.
3. Das Urteil ist im Kostenpunkt für den Kläger vorläufig vollstreckbar. Die Beklagte darf durch Sicherheitsleistung in Höhe der zu erstattenden Kosten des Klägers die Vollstreckung abwenden, wenn nicht der Kläger vor der Vollstreckung Sicherheit in derselben Höhe leistet.
4. Die Revision wird zugelassen.
Tatbestand
I.
Streitig ist, ob der Kläger für seine Kinder V, geb. am 15. August 1995, und F, geb. am 2. Dezember 1999, ab Mai 2010 Anspruch auf Kindergeld hat.
Der geschiedene Kläger, der italienischer Staatsangehöriger ist, wohnt seit 2006 in Deutschland und ist nach der bei den Akten liegenden Gewerbeanmeldung vom 12. September 2007 als selbständiger, nicht sozialversicherungspflichtiger Gewerbetreibender tätig.
Die Kindsmutter wohnt mit den Kindern in Italien. Sie übte ausweislich der Angaben der italienischen Sozialbehörde im Vordruck E 411 vom 9. April 2010 seit 5. März 2007 eine berufliche Tätigkeit aus (oder hat sich in gleichgestellten Verhältnissen im Sinne des Beschlusses Nr. 119 vom 24. Februar 1983 der Verwaltungskommission der Europäischen Gemeinschaften für die soziale Sicherheit der Wanderarbeiter, Amtsblatt der Europäischen Union – ABl. EU – C 295 vom 2. November 1983, S. 3, – berufliche Tätigkeit – befunden) und bezog bis August 2009 italienische Familienleistungen. Nach den Angaben des Klägers erhielt die Kindsmutter im Streitzeitraum aufgrund ihres zu hohen Familieneinkommens keine italienischen Familienleistungen mehr.
Mit Bescheid vom 25. Mai 2010 hatte die Beklagte (die Familienkasse) den Antrag auf Kindergeld für V und F für die Zeit ab Mai 2010 mit der Begründung abgelehnt, dass die Mutter die Kinder in ihren Haushalt aufgenommen habe und somit nach § 64 Abs. 2 Satz 1 des Einkommensteuergesetzes (EStG) vorrangig Anspruch auf Kindergeld habe. Ab Mai 2010 seien die Vorschriften der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit [VO (EG) Nr. 883/2004] anzuwenden. Danach sei der Kindergeldanspruch jeweils nach dem nationalen Kindergeldrecht des EU-Staates zu beurteilen, dessen Rechtsvorschriften vorrangig anzuwenden seien. Dies seien im Fall des Klägers die deutschen Vorschriften, nach denen er nicht mehr vorrangig kindergeldberechtigt sei.
Der gegen diesen Bescheid eingelegte Einspruch blieb in der Einspruchsentscheidung vom 1. Juli 2010 ohne Erfolg.
In seiner Klagebegründung hebt der Kläger hervor, dass die Familienkasse die VO (EG) Nr. 883/2004 unrichtig anwende. Voraussetzung für die Anwendung des Art. 68 der VO (EG) Nr. 883/2004 sei, dass für denselben Zeitraum Leistungen nach den Rechtsvorschriften mehrerer Mitgliedstaaten zu gewähren seien. Dies ergebe sich schon aus der Verwendung des Begriffs „Zusammentreffen” in der amtlichen Überschrift des Art. 68 der VO (EG) Nr. 883/2004. Ein derartiger Kollisionsfall liege nicht vor, da die Kindsmutter keinen Anspruch auf italienische Familienleistungen habe.
Der Kläger beantragt,
den Bescheid über die Ablehnung der Festsetzung von Kindergeld vom 25. Mai 2010 in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 1. Juli 2010 für die Kinder V und F aufzuheben, und die Familienkasse zu verpflichten, ihm für den Zeitraum Mai 2010 bis Juli 2010 Kindergeld in voller Höhe zu gewähren,
hilfsweise die Revision zuzulassen.
Die Familienkasse beantragt,
die Klage abzuweisen.
Zur Begründung verweist sie darauf, dass unabhängig von der Rangfolgeregelung des Art. 68 der VO (EG) Nr. 883/2004 zu beurteilen sei, an wen die Familienleistung in dem vorrangig zuständigen Staat zu zahlen s...