Entscheidungsstichwort (Thema)
Abzweigung von Kindergeld an das Kind bei fehlender Bedürftigkeit des Kindes und dadurch bedingter fehlender Unterhaltspflicht der Eltern. - Revision eingelegt (Aktenzeichen des BFH: III R 10/24)
Leitsatz (redaktionell)
1. Der in § 74 Abs. 1 Satz 1 EStG in Verbindung mit § 74 Abs. 1 Satz 3 EStG geregelte Sachverhalt, dass das Kindergeld an das Kind ausgezahlt werden kann, wenn die Eltern tatsächlich keinen Unterhalt zahlen und dies zu keiner Unterhaltspflichtverletzung führt, weil sie nicht leistungsfähig (§ 1603 BGB) sind, ist dem Sachverhalt, dass die Eltern deshalb ihre Unterhaltspflicht nicht verletzen, weil sie bereits dem Grunde nach nicht zur Leistung von Unterhalt verpflichtet sind, so ähnlich, dass eine analoge Gesetzesanwendung gerechtfertigt ist (BFH, Urteil v. 16.4.2002, VIII R 50/01, BStBl 2002 II S. 575).
2. Eine Abzweigung des Kindergeldes an das Kind hat auch dann analog § 74 Abs. 1 Satz 1 EStG in Verbindung mit § 74 Abs. 1 Satz 3 EStG zu erfolgen, wenn der Kindergeldberechtigte keinen Unterhalt leistet, weil er dazu mangels Bedürftigkeit des Kindes zivilrechtlich nicht verpflichtet ist (Anschluss an Sächsisches Finanzgericht, Urteil v. 7.4.2004, 5 K 2761/02 (Kg); gegen FG Düsseldorf, Urteil v. 7.4.2016, 16 K 1697/15 Kg). Dadurch, dass in § 74 EStG eine dem § 48 Abs. 2 SGB I entsprechende Regelung fehlt, ist eine planwidrige Lücke entstanden, die durch eine analoge Anwendung von § 74 Abs. 1 Satz 1 EStG in Verbindung mit § 74 Abs. 1 Satz 3 EStG zu schließen ist.
Normenkette
EStG § 74 Abs. 1 Sätze 1, 3-4; BGB §§ 1601-1603, 1612 Abs. 1 S. 1, Abs. 2, 3 S. 1
Tenor
1. Die Klage wird abgewiesen.
2. Die Klägerin trägt die Kosten des Verfahrens.
3. Die Revision wird zugelassen.
Tatbestand
I.
Die Beteiligten streiten über die Zulässigkeit der Abzweigung des Kindergeldes an D, den Sohn der Klägerin, geboren am […] 2000.
Die Klägerin erhielt für ihre drei Kinder, unter anderem D, fortlaufend Kindergeld. Mit Antrag vom 9. Februar 2021 beantragte D die Auszahlung des Kindergeldes an sich selbst. Dem Antrag wurde mit Bescheid vom 6. Mai 2021 entsprochen und das Kindergeld ab dem 1. April 2021 an D ausbezahlt.
Hiergegen richtete sich der Einspruch der Klägerin vom 25. Mai 2021. Zur Begründung trug sie unter anderem vor, D erhalte im Rahmen seines dualen Studiums eine Bruttovergütung von 1.XXX,00 EUR monatlich sowie ein monatliches steuerfreies Stipendium von XXX,00 EUR. Des Weiteren verfüge er unter anderem über ein zweckgebundenes Vermögen von XX.XXX EUR, das ihm für Ausbildungszwecke zur Verfügung gestellt worden sei.
Mit Einspruchsentscheidung vom 23. Februar 2022 wies die Familienkasse den Einspruch als unbegründet zurück.
Zur Begründung führte sie aus, Kindergeld könne an ein Kind bzw. an die für seinen Unterhalt aufkommende Person oder Stelle ausgezahlt (abgezweigt) werden, wenn der Berechtigte eine gesetzliche Unterhaltspflicht gegenüber dem Kind verletze (§ 74 Abs. 1 Satz 1 und Satz 4 Einkommensteuergesetz – EStG –). Eine Unterhaltspflicht setze einen ungedeckten Unterhaltsbedarf des Kindes (§ 1602 Bürgerliches Gesetzbuch – BGB –) und die Leistungsfähigkeit des kindergeldberechtigten Elternteils (§ 1603 BGB) voraus.
Kindergeld könne auch abgezweigt werden, wenn der Berechtigte mangels Leistungsfähigkeit gegenüber dem Kind nicht unterhaltsverpflichtet sei (§ 1603 BGB) oder wenn er mit einem Betrag, der geringer als das auf das Kind entfallende Kindergeld sei, seine Unterhaltspflicht erfülle (§ 74 Abs. 1 Satz 3 EStG). Das Gleiche gelte für den Fall, dass aus anderen Gründen eine zivilrechtliche Unterhaltsverpflichtung nicht vorliege und auch kein Unterhalt geleistet werde (Urteil des Bundesfinanzhofes – BFH – vom 16. April 2002 VIII R 50/01, BStBl II 2002, 575). Damit solle vermieden werden, dass Kindergeld Eltern zugutekomme, die für den Unterhalt des Kindes überhaupt nicht aufkommen.
Die Vorschrift des § 74 Abs. 1 EStG diene dem Zweck, im konkreten Bedarfsfall schnelle und unbürokratische Hilfe zu leisten und das Kindergeld an die Personen oder Stellen auszuzahlen, denen es letztendlich zugutekommen solle. Zwar stehe die Abzweigung grundsätzlich im Ermessen der Familienkasse, im Hinblick auf die Zweckbestimmung des Kindergeldes sei das Ermessen jedoch regelmäßig dahingehend auszuüben, dass bei Vorliegen der tatbestandlichen Voraussetzungen eine Abzweigung des Kindergeldes zu erfolgen habe. Die Voraussetzungen für eine Abzweigung lägen hier vor. Die Klägerin sei zivilrechtlich nicht mehr zum Unterhalt verpflichtet. Sie erbringe auch tatsächlich keine Unterhaltsleistungen.
Hiergegen richtet sich die Klage vom 17. März 2022. Zur Begründung trägt die Klägerin im Wesentlichen vor, im vorliegenden Fall bestehe generell keine Unterhaltspflicht. Trotzdem sei im Voraus eine großzügige Unterstützung für die Ausbildung gewährt worden. D habe unter anderem, neben weiteren erheblichen Geldbeträgen, vorher nachweislich langjährig angespartes Kindergeld im Vertrauen im Voraus zweckgebunden für die...