Entscheidungsstichwort (Thema)
Rechnungsanforderungen bei innergemeinschaftlichen Dreiecksgeschäften in den Jahren 2006 bis 2009
Leitsatz (redaktionell)
1. Die Vorschrift des § 25b Abs. 2 Nr. 3 UStG i. V. m.§ 14a Abs. 7 UStG über die Rechnungsanforderungen bei einem Dreiecksgeschäft entsprechen nicht dem Unionsrecht. Denn während die nationale Vorschrift vorsieht, dass auf das Vorliegen eines innergemeinschaftlichen Dreiecksgeschäfts und die Steuerschuldnerschaft des letzten Abnehmers hinzuweisen ist, enthalten bis zum Jahr 2006 Art. 21 Abs. 3 Buchst. c Spiegelstrich 3 der Richtlinie 77/388/EWG i.V.m. Art. 22 Abs. 3 Buchst. b Spiegelstrich 11 der RL 77/388/EWG und für die Jahre 2007 bis 2009 Art. 197 Abs. 1 Buchst. c MwStSystRL i. V. m. Art. 226 Nr. 11 MwStSystRL die Vorgabe, dass alternativ der Hinweis auf die einschlägige Bestimmung der Richtlinie, auf die einschlägige nationale Vorschrift oder auf die Verlagerung der Steuerschuld ausreicht.
2. Der Steuerpflichtige kann sich auf den Anwendungsvorrang des Unionsrechts gegenüber richtlinienwidrigen Regelungen des nationalen Rechts berufen. Der Unternehmer, welcher als Lieferer im Rahmen eines innergemeinschaftlichen Dreiecksgeschäfts geltend macht, dass der Empfänger Steuerschuldner geworden ist, kann sich daher auf die für ihn günstigeren Vorschriften des Unionsrechts in Bezug auf die Rechnungsanforderungen berufen. Ihm kann nicht entgegengehalten werden, dass sich dann die Steuerschuld seines Abnehmers erhöht. Denn die Wirkungen des von ihm geltend gemachten Anwendungsvorrangs beschränken sich auf seine Person.
3. Hat die Klägerin als erster Abnehmer im Rahmen eines innergemeinschaftlichen Dreiecksgeschäfts versendet, so entsprachen in den Jahren 2006 bis 2009 von ihr erteilte Rechnungen mit dem Hinweis „Steuerfreie Lieferung gem. Art. 28c Teil E Abs. 3 der 6. EG-MWST-RL” den Anforderungen des Unionsrechts. Das gilt für die Jahre 2007 bis 2009 ungeachtet dessen, dass ab 2007 die RL 77/388/EWG durch die MwStSystRL ersetzt worden ist. Denn auch die Bezugnahme auf die 6. EG-MWST-RL ist als Verweis auf „diese Richtlinie” i. S. d. Art. 197 MwStSystRL zu sehen.
Normenkette
UStG 2005 § 3 Abs. 6 Sätze 1, 5-6, Abs. 7 S. 1, § 3 Ab S. 2 Nr. 1, § 25b Abs. 1 S. 1, Abs. 2 Nr. 3, § 14a Abs. 7; RL 77/388/EwG Art. 28c Teil E Abs. 3; RL 77/388/EwG Art. 21 Abs. 1 Buchst. c; RL 77/388/EwG Art. 22 Abs. 3 Buchst. b Spiegelstrich 11; MwStSystRL Art. 197 Abs. 1 Buchst. c, Art. 226 Nr. 11, Art. 411 Abs. 2
Tenor
1. Die Umsatzsteuerbescheide vom 16. Mai 2012 in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 14. Mai 2013 werden dahingehend abgeändert, dass die Umsatzsteuer für 2006 um 1.039.691,47 EUR, für 2007 um 1.214.124,04 EUR, für 2008 um 1.297.095,61 EUR und für 2009 um 1.285.187,17 EUR herabgesetzt wird.
2. Der Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens.
3. Das Urteil ist im Kostenpunkt für die Klägerin vorläufig vollstreckbar. Der Beklagte darf durch Sicherheitsleistung in Höhe der zu erstattenden Kosten der Klägerin die Vollstreckung abwenden, wenn nicht die Klägerin vor der Vollstreckung Sicherheit in derselben Höhe leistet.
Gründe
Die Klage ist begründet. Mit Erfolg kann sich die Klägerin darauf berufen, dass ihre ursprünglichen Rechnungen nach Unionsrecht zutreffend und daher ihre Abnehmer die Steuerschuldner waren.
1. Die Klage richtet sich (ausschließlich) gegen die Steuerbescheide.
a) Prozesserklärungen sind wie sonstige Willenserklärungen auslegungsfähig. Ziel der Auslegung ist es, den wirklichen Willen des Erklärenden zu erforschen (§ 133 des Bürgerlichen Gesetzbuchs). Auf die Wortwahl und die Bezeichnung kommt es nicht entscheidend an, sondern auf den gesamten Inhalt der Willenserklärung. Hierbei ist zu berücksichtigen, dass im Zweifel das gewollt ist, was nach den Maßstäben der Rechtsordnung vernünftig ist und der recht verstandenen Interessenlage des Klägers entspricht (Urteil des Bundesfinanzhofs – BFH – vom 20. November 2014 IV R 47/11, BFH/NV 2015, 730, m.w.N.). Dabei können auch außerhalb der Erklärung liegende weitere Umstände herangezogen werden. Nur eine solche Auslegung trägt dem Grundsatz der rechtsschutzgewährenden Auslegung von Verfahrensvorschriften (Art. 19 Abs. 4 des Grundgesetzes) Rechnung (BFH-Beschluss vom 17. September 2014 VI B 75/14, BFH/NV 2015, 51). Dies gilt grundsätzlich auch für Schriftsätze von Rechtsanwälten (vgl. BFH-Urteil vom 22. September 2011 IV R 8/09, BFHE 235, 287, BStBl II 2012, 183).
b) Hier hat sich die Klägerin in ihrer Klageschrift ausdrücklich nur gegen die Zinsfestsetzungen gem. § 233a AO für die Umsatzsteuer der Streitjahre gewandt. Eine solche Klage wäre aber nach § 42 der Finanzgerichtsordnung i.V.m. § 351 Abs. 2 AO offensichtlich erfolglos, weil die Einwendungen der Klägerin – wie im Einspruchsverfahren – ausschließlich die Steuerfestsetzung betreffen. Einspruch hatte sie sowohl gegen die Steuerfestsetzung als auch gegen die Zinsbescheide eingelegt. Gemäß ihrer nachvollziehbaren Einlassung beschränkte sie die Klage auf die Zinsfestsetzungen,...