Entscheidungsstichwort (Thema)
Kindergeld. Zurückverweisung an die Familienkasse nach § 100 Abs. 3 FGO, wenn die Rechtssache weiter aufzuklären ist. Inländischer Wohnsitz muss nicht Mittelpunkt des Lebensinteresses sein. Gewöhlicher Aufenthalt ist ausreichend. Pflicht der Familienkasse zur weiteren Sachaufklärung trotz unzureichender Mitwirkung und offenbar unzutreffender Angaben der Antragstellerin
Leitsatz (redaktionell)
1. Die Voraussetzungen für die Aufhebung der Einspruchsentscheidung und des angefochtenen Kindergeld-Aufhebungsbescheids und die Zurückverweisung ohne Sachentscheidung gemäß § 100 Abs. 3 FGO liegen vor, wenn das Gericht die Rechtslage in Teilen anders beurteilt als die Familienkasse, dadurch weitere Ermittlungen notwendig werden und die Rechtssache im übrigen unzureichend aufgeklärt war und, um die Sache entscheidungsreif zu machen, weiter aufzuklären ist.
2. Der Wohnsitz im Inland muss nicht den Mittelpunkt der Lebensinteressen darstellen. Ein nur gelegentliches Verweilen während unregelmäßig aufeinander folgender kurzer Zeiträume zu Erholungszwecken oder ein Aufenthalt, der nur Besuchscharakter hat, reichen jedoch nicht aus. Insofern dient die Sechs-Monats-Regelung des § 9 AO als Anhaltspunkt. Die polizeiliche Meldung ist nicht ausschlaggebend.
3. Ausführungen zum Wohnsitz bzw. gewöhnlichen Aufenthalt der Antragstellerin sowie zur Abwägung der behördlichen Ermittlungspflicht gegen die Mitwirkungspflichten der Antragstellerin im Streitfall.
Normenkette
FGO § 100 Abs. 3; AO §§ 8-9, 88; EStG § 32 Abs. 1 Nr. 1, § 62 Abs. 1
Tenor
1. Der Kindergeldaufhebungsbescheid vom 9. Dezember 2011 und die Einspruchsentscheidung vom 15. Februar 2012 werden aufgehoben. Die Sache wird an die Familienkasse Passau zurückverwiesen.
2. Die Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens.
3. Das Urteil ist im Kostenpunkt für die Klägerin vorläufig vollstreckbar. Die Beklagte darf durch Sicherheitsleistung in Höhe der zu erstattenden Kosten der Klägerin die Vollstreckung abwenden, wenn nicht die Klägerin vor der Vollstreckung Sicherheit in derselben Höhe leistet.
Tatbestand
Streitig ist, ob die Klägerin Anspruch auf Kindergeld für ihren Sohn A, geboren am 9. Mai 1982, für die Zeit von November 2009 bis einschließlich Februar 2012 hat.
Die Klägerin ist tunesische Staatsangehörige. Aufgrund des unter dem Az. … geführten und mit Kostenbeschluss vom 29. November 2011 abgeschlossenen Klageverfahrens zahlte die Agentur für Arbeit B – Familienkasse (Beklagte) der Klägerin Kindergeld für ihren Sohn für die Zeit von März bis einschließlich Oktober 2009. Mit Bescheid vom 9. Dezember 2011 hob die Familienkasse die Kindergeldfestsetzung für den Sohn jedoch ab November 2009 mit der Begründung auf, dass die Klägerin ab diesem Zeitpunkt keinen Wohnsitz mehr im Bundesgebiet habe und daher die Voraussetzungen des § 32 Abs. 1 Nr. 1 Einkommensteuergesetz (EStG) nicht mehr vorlägen.
Im Rahmen des dagegen geführten Einspruchsverfahrens fand am 7. Februar 2012 eine Außenprüfung beim Anwesen in der P-Str. in C, in dem die Klägerin nach ihren Angaben im Streitzeitraum gewohnt haben will, statt. Ausweislich der Feststellungen im Bericht verweigerte der Bruder der Klägerin, der Mieter der Wohnung, den Prüfern den Zutritt und teilte den Prüfern mit, die Klägerin schlafe auf einer Couch. Im Einzelnen wird auf den Bericht vom 13. Februar 2012 Bezug genommen. Die Familienkasse wies den Einspruch daraufhin mit Einspruchsentscheidung vom 15. Februar 2012 als unbegründet zurück.
Hiergegen richtet sich die Klage. Die Klägerin begehrt dabei weiterhin die Aufhebung des Aufhebungsbescheids vom 9. Dezember 2011 und trägt zur Begründung vor, sie habe durchgehend ab November 2009 ihren Wohnsitz in Deutschland. Sie lebe seit 1969 in Deutschland und seit 2003 in der angegebenen Wohnung. Weder sie noch ihr Sohn seien seit November 2009 aus dem Bundesgebiet verzogen, wie sich aus den vorgelegten Meldebescheinigungen ergebe. Sie wohne in der Wohnung ihres Bruders, Herrn R in der P-Str. in C. Allein daraus, dass der Zutritt zur Wohnung verweigert worden sei, könne nicht geschlossen werden, dass sie nicht in der Wohnung wohne. Es handle sich um einen Einzimmerwohnung mit Küche und Bad, die sie sich mit ihrem Bruder teile. Sie besitze einen eigenen Schlüssel. Sie unterstütze ihren Sohn, der in seiner eigenen Wohnung wohne, regelmäßig im Alltag, was darauf hindeute, dass sie sich nicht nur zu Besuchs- und Erholungszwecken in Deutschland aufhalte. Der Schwerpunkt der sozialen Kontakte liege in C und damit in Deutschland. Es werde diesbezüglich auf das nun abgeschlossene Verfahren vor dem Finanzgericht … verwiesen.
Ergänzend wird auf den Schriftsätze vom 15. März, 25. April und 3. Juli 2012 samt Anlagen Bezug genommen.
Die Klägerin beantragt,
den Kindergeldaufhebungsbescheid vom 9. Dezember 2011 und die Einspruchsentscheidung vom 15. Februar 2012 werden aufzuheben.
Die Beklagte beantragt
Klageabweisung.
Zur Begründung bezieht sie sich im Wesentlichen auf die Einspruchsentscheidung und ...